2. Reihenfolge der Anträge
2.2. Reihenfolge der Prüfung der Anträge
Bevor eine Entscheidung auf der Grundlage eines Hilfsantrags erlassen werden kann, muss der Hauptantrag geprüft und darüber entschieden werden (T 484/88). Die Kammer in T 169/96 wies darauf hin, dass das EPA nach Art. 113 (2) EPÜ 1973 an die Anträge des Anmelders oder Patentinhabers gebunden ist, was im Falle eines Hauptantrags und von Hilfsanträgen bedeutet, dass das EPA auch an die Reihenfolge der Anträge gebunden ist (s. auch T 540/02).
In T 911/06 erklärte die Kammer jedoch, dass dieser Grundsatz nicht notwendigerweise in den Verfahren vor den Kammern Anwendung findet. Im ihr vorliegenden Fall hatte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) mit höherrangigen Anträgen die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang gemäß neuen Anspruchssätzen und mit einem nachrangigen Antrag die Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung beantragt. Die Kammer führte aus, dass es gegen den Zweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens gemäß der Entscheidung G 9/91 (ABl. 1993, 408) verstoßen könnte, allgemeine Grundsätze für Gerichtsverfahren wie den Verfügungsgrundsatz (s. G 8/91, ABl. 1993, 346) auf die Reihenfolge der Anträge des Beschwerdeführers (Patentinhabers) anzuwenden. Die Kammer war der Ansicht, dass es dem Zweck der Beschwerde entspreche, zunächst zu prüfen, ob die erstinstanzliche Abteilung die ihr vorgelegten Anträge in der Sache richtig bewertet habe.
In dem Verfahren, das der Sache R 8/16 zugrundelag, hatte die Kammer das Patent widerrufen. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass es der Technischen Kammer grundsätzlich freisteht, die (anhängigen) Anträge in beliebiger Reihenfolge zu prüfen und folglich die Diskussion darüber in beliebiger Reihenfolge zu führen, ohne dies begründen zu müssen. Die Dispositionsmaxime nach Art. 113 (2) EPÜ geht nicht so weit, dass ein Beteiligter diktieren könnte, wie und in welcher Reihenfolge ein Entscheidungsorgan des EPA den ihm vorliegenden Sachverhalt prüfen soll. Das EPA muss lediglich sicherstellen, dass es vor Erlass einer endgültigen Entscheidung keinen noch anhängigen Antrag übersehen hat. Die Reihenfolge der Prüfung oder der Diskussion ist eine Frage der Verfahrensökonomie, die in erster Linie Sache des Entscheidungsorgans ist. Solange über Sachfragen der noch anhängigen Anträge diskutiert werden kann, und sei es nur durch Bezugnahme auf die Diskussionen über andere Anträge (s. R 6/11), ist ein solches Vorgehen nicht zu beanstanden, und die Kammer ist keineswegs verpflichtet, ihre Vorgehensweise zu begründen. Siehe auch Kapitel III.B.3.1. "Allgemeines".
Im Einspruchsverfahren, das der Sache T 2217/22 voran ging, hatte der Patentinhaber die Hilfsanträge 5, 6, 3, 4 und 7 nachranging zum im Beschwerdeverfahren als "Hilfsantrag 2" bezeichneten Antrag gestellt. Der Kammer zufolge erfolgte dies zwar nach einem verfahrensleitenden Hinweis der Einspruchsabteilung, die Reihenfolge der Hilfsanträge zu überdenken. Keinesfalls habe die Einspruchsabteilung jedoch den Patentinhaber darin beeinflusst, in welcher Reihenfolge er die von ihm bereits vorgelegten zahlreichen Hilfsanträge vorzubringen habe. Der Patentinhaber brachte vor, die Einspruchsabteilung hätte ihn darauf hingewiesen, dass die Zulassung weiterer Hilfsanträge in ihrem Ermessen stehe, und welche Ermessenskriterien dabei einschlägig seien. Die Kammer räumte ein, dass dieser Umstand subjektiv für den Patentinhaber ein Dilemma bei der Entscheidung über die Ausübung der ihm im Rahmen seiner Verfahrensdisposition zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gewesen war. Objektiv sei eine solche Erklärung der Einspruchsabteilung jedoch nicht geeignet, die Verfahrensdisposition des Patentinhabers zu beschränken, da es sich allenfalls um einen verfahrensleitenden Hinweis handeln könne.
In T 353/18 wies die Kammer darauf hin, dass es im EPÜ keine Vorschrift gibt, die einen rechtlichen Vorrang der Reinschrift eines Antrags gegenüber einer mit Anmerkungen versehenen Fassung festlegt. Bei mangelnder Übereinstimmung kann nur durch eine Erklärung des Patentinhabers bestimmt werden, welche Fassung gilt (hier die Reinschrift). Gleichzeitig darf der Beschwerdeführer (Einsprechende), der sich auf die Richtigkeit der (falschen) mit Anmerkungen versehenen Fassung verlässt, dadurch keinen Nachteil erleiden.