I. Haupt- und Hilfsanträge
8. Einspruchsverfahren
Nach T 234/86 (ABl. 1989, 79) kann und gegebenenfalls muss die Einspruchsabteilung die Aufrechterhaltung eines Patents aufgrund eines nachrangigen Hilfsantrags des Patentinhabers beschließen, falls der Patentinhaber einen Hauptantrag und Hilfsanträge aufrechterhält, denen nicht stattgegeben werden kann, die aber dem stattzugebenden Antrag im Rang vorangehen. Die Ablehnung der vorrangigen Anträge muss begründet werden.
In T 5/89 (ABl. 1992, 348) bekräftigte die Beschwerdekammer den Grundsatz, dass sich eine Entscheidung nur dann auf die Ablehnung des Hauptantrags beschränken dürfe, wenn alle nachrangigen Hilfsanträge zurückgenommen worden sind. Dieser Grundsatz wurde in T 785/91 und T 81/93 bestätigt. Im Anschluss an T 5/89 stellte die Kammer in T 861/97 fest, dass eine nur auf den Hauptantrag gestützte Widerrufsentscheidung bei Vorliegen eines ausdrücklich aufrechterhaltenen Hilfsantrags gegen Art. 113 (2) EPÜ 1973 verstößt.
In T 2188/22 wies die Kammer darauf hin, dass der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erklärt habe, er wolle auf die im schriftlichen Verfahren eingereichten Hilfsanträge zurückgreifen. Es sei somit klar gewesen, dass der Beschwerdeführer die im schriftlichen Verfahren eingereichten Hilfsanträge 2-17 weiterverfolgen wollte. Die Frage der Zulassung der Hilfsanträge 3-17 sei jedoch nicht erörtert worden. Dies sei für sich genommen ein wesentlicher Verfahrensmangel, denn das Recht des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör sei nicht gewahrt worden. Siehe auch Kapitel III.B.2.5.2 "Aus der Entscheidung muss nachweislich erkennbar sein, dass das Vorbringen gehört und berücksichtigt wurde".
In T 155/88 stellte die Kammer klar, dass der Patentinhaber nicht aufgefordert werden darf, einen Antrag zurückzunehmen. Hat er neben einem Hauptantrag einen oder mehrere Hilfsanträge gestellt und keinen davon zurückgenommen, so ist eine Einspruchsabteilung verpflichtet, in ihrer Entscheidung die Gründe zu nennen, aus denen sie jeden der aufeinander folgenden Anträge entweder für unzulässig (Ermessensausübung nach R. 57 (1) EPÜ 1973 und R. 58 (2) EPÜ 1973, s. T 406/86, ABl. 1989, 302) oder für sachlich nicht gewährbar hält – s. T 234/86, ABl. 1989, 79. Gibt eine Einspruchsabteilung einem Hilfsantrag statt, ohne in ihrer Entscheidung zu begründen, weshalb der Hauptantrag oder die im Rang vorgehenden Hilfsanträge nicht gewährbar sind, so ist diese Entscheidung als nichtig und rechtlich unwirksam aufzuheben und die Beschwerdegebühr wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels zurückzuzahlen, wie dies bei T 234/86 und T 484/88 der Fall war.
In T 1677/21 befand die Kammer, der Anspruch des Patentinhabers auf rechtliches Gehör sei durch die Zurückweisung des Antrags auf Zulassung weiterer Hilfsanträge verletzt worden; dem Patentinhaber sei die Möglichkeit zur Einreichung weiterer Hilfsanträge genommen worden, noch bevor er davon Gebrauch machen konnte und die bereits eingereichten Hilfsanträge überhaupt geprüft worden seien. Die Kammer erinnerte unter Verweis auf T 1105/96 daran, dass eine verweigerte Zustimmung zu Änderungen noch vor deren Einreichung nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern eine rechtswidrige Ausübung des Ermessens nach R. 137 (3) EPÜ ist und ipso facto einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt (s. auch Kapitel III.B.2.4.3 "Möglichkeit, sich zu Beweismitteln zu äußern").
In T 848/00 hatte der Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung beantragt, die Erzeugnisansprüche im Hauptantrag zu streichen. Im Beschwerdeverfahren machte er geltend, dass er nie auf den Gegenstand der Erzeugnisansprüche verzichtet habe und seine Handlungen im Einspruchsverfahren nur einen neuen Hilfsantrag eingeführt hätten. Die Kammer schloss sich folgender Begründung der Entscheidung T 155/88 an: Hat ein Patentinhaber Änderungen seiner Ansprüche vorgeschlagen, die sich aus dem Einspruch ergeben und mit denen die im Einspruchsverfahren erhobenen Einwände durch eine Einschränkung des angestrebten Schutzbereichs ausgeräumt werden sollen, so darf dies normalerweise nicht als Verzicht auf den durch die Patentansprüche in der erteilten Fassung geschützten Gegenstand gedeutet werden. Diese Feststellung wirkt sich jedoch nicht darauf aus, wie der geänderte Anspruchssatz auszulegen ist, weil Ansprüche eingeschränkt werden können, ohne dass auf den Gegenstand der ursprünglich eingereichten Patentschrift verzichtet wird. Da der Patentinhaber ausdrücklich eine Änderung des Hauptantrags beantragt hatte, gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung dem Hauptantrag des Patentinhabers stattgegeben hatte und er somit nicht beschwert war.