2.5. Berücksichtigung der Argumente, Anträge, Beweismittel und des sonstigen Vorbringens der Beteiligten
2.5.2 Aus der Entscheidung muss nachweislich erkennbar sein, dass das Vorbringen gehört und berücksichtigt wurde
Die entscheidende Instanz muss das Vorbringen nachweislich anhören und berücksichtigen (T 206/10 unter Hinweis auf T 763/04, T 246/08; s. auch T 1709/06, T 645/11). Die bloße Wiedergabe des Vortrags der Parteien genügt nicht; vielmehr muss aus den Gründen hervorgehen, dass bei der Entscheidungsfindung auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit deren Kernargumenten stattgefunden hat (T 2352/13).
Wenn eine Entscheidung das Vorbringen eines Beteiligten nicht berücksichtigt und auf einen Grund gestützt wird, zu dem sich der Beteiligte nicht äußern konnte, liegt ein Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ und somit ein wesentlicher Verfahrensmangel vor (J 7/82, ABl. 1982, 391; T 778/98, T 1039/00, T 1312/10). Wird die Entscheidung, eine Anmeldung zurückzuweisen, auf mehrere durch entsprechende Argumente und Beweise erhärtete Gründe gestützt, ist es von fundamentaler Bedeutung, dass die Entscheidung als Ganzes den Anforderungen des Art. 113 (1) EPÜ gerecht wird (T 1034/11). Aus einer Entscheidung muss hervorgehen, dass alle von einem Beteiligten vorgebrachten möglicherweise gegen die Entscheidung sprechenden Argumente tatsächlich widerlegbar sind (s. T 246/08, T 337/17, T 1655/21). Siehe auch Kapitel III.K.3.4.2 "Rechtliches Gehör – Anspruch auf Berücksichtigung von Eingaben".
In T 763/04 stellte die Kammer fest, dass Art. 113 (1) EPÜ verletzt wird, wenn Tatsachen und Argumente, die dem Vorbringen des Beschwerdeführers zufolge für die Verteidigung seiner Sache eindeutig von zentraler Bedeutung sind und gegen die erlassene Entscheidung sprechen könnten, in der betreffenden Entscheidung völlig außer Acht gelassen werden. Siehe auch T 2227/09, T 1898/11, T 1206/12, T 1592/13, T 212/17 und T 1655/21. T 740/93 zufolge sollte die Entscheidung zusätzlich zur logischen Verknüpfung von Sachverhalten und Gründen zumindest einige Ausführungen zu den kritischen Streitfragen enthalten. In T 1557/07 entschied die Kammer, dass die Prüfungsabteilung auf die wichtigsten Streitpunkte eingegangen war und den Anmeldern so eine Vorstellung davon vermittelt habe, warum ihr Vorbringen nicht überzeugen konnte. In T 2012/17 hielt die Kammer fest, dass in der angefochtenen Entscheidung weder explizit noch implizit auf die Argumente des Beschwerdeführers zu mindestens zwei wichtigen Streitpunkten eingegangen worden war. Siehe auch T 431/21.
In T 1094/20 erörterte die Kammer, dass das Argument des Einsprechenden, angesichts der Verhandlungsdauer von über 10 Stunden könne das rechtliche Gehör des Patentinhabers nicht verletzt sein, nicht durchgreife. Die Kammer verwies auf die gefestigte Rechtsprechung, wonach es zur Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht ausreicht, dass sich die Beteiligten in der Sache äußern können, sondern es müssen diese Äußerungen in der Entscheidung auch berücksichtigt werden. Die unterbliebene Würdigung von Kernargumenten zu Merkmalen, deren Offenbarung für die Beurteilung der Patentierbarkeit wesentlich sind, stellte nach Ansicht der Kammer einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar.
In T 1843/11 machte der Beschwerdeführer einen wesentlichen Verfahrensmangel geltend, weil ein von ihm vorgebrachtes Argument betreffend die ausreichende Offenbarung in der Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht aufgegriffen worden sei. Die Kammer erinnerte daran, dass nach R. 111 (2) EPÜ Entscheidungen des Europäischen Patentamts, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen sind. Obwohl die Einspruchsabteilung nicht verpflichtet ist, jedes einzelne Argument eines Beteiligten aufzugreifen (s. dieses Kapitel III.B.2.5.3), muss dieser objektiv nachvollziehen können, ob die Entscheidung berechtigt ist. Die Entscheidung sollte zumindest einige Ausführungen zu wichtigen Streitpunkten in der Argumentation enthalten, damit der Betroffene eine ausreichende Vorstellung davon erhält, warum seine Vorbringen nicht überzeugen, und er seine Beschwerdebegründung auf die entsprechenden Punkte stützen kann (s. T 70/02). Die Kammer stellte fest, dass die Erfordernisse von Art. 113 (1) EPÜ nicht schon dadurch erfüllt sind, dass der Beschwerdeführer die Gelegenheit hatte (und in Anspruch nahm), sein Argument vorzubringen: Die Einspruchsabteilung muss das Argument auch nachweislich anhören und berücksichtigen (s. T 763/04). Weil sie dies in der vorliegenden Sache nicht getan hatte, lag ein wesentlicher Verfahrensmangel vor. Siehe auch T 689/20 in Kapitel III.K.3.4.4 "Defizitäre Begründung".
In dem T 1411/07 zugrunde liegenden Verfahren hatte der Patentinhaber die Zulässigkeit des Einspruchs wegen mangelnder Substantiierung bestritten. Die Einspruchsabteilung hatte jedoch ohne Begründung festgestellt, dass der Einspruch zulässig sei. Die Kammer sah das Fehlen jeglichen Hinweises der Einspruchsabteilung auf die Erwägungen des Patentinhabers als Verstoß gegen R. 68 (2) EPÜ 1973 (R. 111 (2) EPÜ) und als wesentlichen Verfahrensmangel an.
In T 655/13 entschied die Kammer, die Prüfungsabteilung müsse eine Übersetzung zumindest der ihrer Argumentation zugrunde liegenden längeren Passage aus D1 vorlegen oder diese Passage so eindeutig wie möglich angeben, damit die Beschwerdeführer (und ggf. die Kammer) nachvollziehen und überprüfen können, ob die Prüfungsabteilung ihre Eingaben berücksichtigt und somit ihr rechtliches Gehör gewahrt hat.
In T 1385/16 war in der angefochtenen Entscheidung nicht erörtert worden, was der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 12. Dezember 2012 und 17. August 2012 zur Anwendung der Richtlinien H‑V, 3.2.1 und H‑V, 3.1 in der damals geltenden Fassung vorgebracht hatte; diese Richtlinien waren seiner Meinung nach für die Beurteilung der Frage relevant, ob die Änderung eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung darstellt. Tatsächlich stellte die Kammer fest, dass dieses Vorbringen dem Anschein nach im gesamten Prüfungsverfahren nicht angemessen erörtert wurde. Da die Prüfungsabteilung es versäumt hatte, grundlegendes Vorbringen des Beschwerdeführers in der angefochtenen Entscheidung anzusprechen, entschied die Kammer, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel vorlag.
In T 2188/22 stellte die Kammer fest, dass der Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt worden ist, da die Parteien weder zur Frage der Zulässigkeit der (im schriftlichen Verfahren eingereichten) Hilfsanträge 3 bis 17 gehört, noch der Inhalt dieser Hilfsanträge im Verfahren vor der Einspruchsabteilung erörtert wurde. Nach Auffassung der Kammer stellte dies einen "schwerwiegenden Verfahrensmangel" dar, der die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigte (s. auch Kapitel III.I.8. "Einspruchsverfahren").
In T 2054/19 führte die Kammer aus, dass das Argument des Beschwerdeführers zwar im Zusammenhang mit einem anderen Anspruchssatz vorgebracht worden sei, aber auch für die Ansprüche in der ursprünglich eingereichten Fassung und für die der Entscheidung zugrunde liegenden Ansprüche relevant sei. Die Kammer stellte fest, dass dieses Argument in der Entscheidung weder explizit noch implizit berücksichtigt wurde. In T 1997/21 hat der Anmelder schriftlich eine "Entscheidung nach Aktenlage" beantragt. Die Kammer war der Ansicht, dass er durch die umfangreiche Stellungnahme im gleichen Schreiben und die Einführung neuer Argumente dennoch eine Situation geschaffen habe, in welcher eine Entscheidung, die lediglich auf frühere "Bescheide" verweist, aus verfahrensrechtlicher Sicht nicht zulässig gewesen sei. Der Kammer zufolge hätten die neu vorgebrachten Argumente jedenfalls in der Entscheidung behandelt werden müssen. Siehe auch Kapitel III.K.3.4.4 b) "Defizitäre Begründungen nicht ausreichend im Sinne der Regel 111 (2) EPÜ".
In T 238/94 stellte die Kammer fest, dass die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zwar nirgends direkt auf das Vorbringen des Beschwerdeführers zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit Bezug genommen hatte, aber sehr wohl auf die Offenbarung aller vom Beschwerdeführer und vom Beschwerdegegner angezogenen Dokumente und auch auf mögliche Kombinationen ihrer Lehren eingegangen war. Auf diese Weise wurde das Vorbringen des Beschwerdeführers nach Auffassung der Kammer bei der Entscheidungsfindung zumindest indirekt berücksichtigt (s. auch T 1004/96).
In T 1230/15 befand die Kammer, dass die offensichtliche Annahme des Beschwerdeführers (Einsprechenden), es gebe ein absolutes Recht, alle möglichen Angriffe auf die erfinderische Tätigkeit mündlich vor der Einspruchsabteilung vorzutragen – und alles andere stelle eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar –, in fundamentalem Widerspruch zum Aufgabe-Lösungs-Ansatz stand, wie er von den EPA-Abteilungen bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit angewandt wird. Dass die Erörterung zur Ermittlung des (einzigen) nächstliegenden Stands der Technik nicht mit der erforderlichen Klarheit der Zielsetzung stattgefunden hat oder möglicherweise ganz unterlassen wurde, reichte der Kammer für sich genommen nicht aus, um eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erkennen, geschweige denn eine wesentliche Rechtsverletzung.
In T 1068/20 hatte der Beschwerdeführer (Anmelder) die weite Auslegung eines der Anspruchsmerkmale durch die Prüfungsabteilung beanstandet. Die Kammer erklärte, dass es in Bezug auf den Anspruch auf rechtliches Gehör unerheblich sei, ob die Prüfungsabteilung das betreffende Merkmal richtig oder falsch ausgelegt habe. Sie hätte allerdings erläutern müssen, warum die Argumente des Beschwerdeführers, die diese Auslegung bestritten, nicht überzeugend waren.