2. Anwendungsbereich der Regel 140 EPÜ
2.1. Berichtigung von Fehlern im Wortlaut eines Patents
Laut der Rechtsprechung der Beschwerdekammern vor G 1/10 (z. B. T 850/95 date: 1996-07-12, ABl. 1997, 152; T 425/97, T 965/98) konnte der Wortlaut eines Patents im Rahmen der R. 140 EPÜ berichtigt werden, wenn er nicht der Wortlaut war und offensichtlich auch nicht sein konnte, der die tatsächliche Absicht des Entscheidungsorgans wiedergab.
In T 367/96 vom 21. Juni 2001 date: 2001-06-21 und G 1/97 wurde R. 140 EPÜ (damals R. 89 EPÜ 1973) restriktiver ausgelegt. Danach war sie eng auszulegen und gestattete lediglich die Berichtigung von formalen Fehlern im Wortlaut der den Beteiligten gemäß R. 111 EPÜ (R. 68 EPÜ 1973) zugestellten Entscheidung, eröffnete jedoch nicht die Möglichkeit, die einer Entscheidung zugrunde liegenden faktischen und rechtlichen Fragen erneut zu prüfen oder eine Entscheidung aufzuheben, zu der der Spruchkörper in Abwägung dieser Fragen gelangt war.
In G 1/10 (ABl. 2013, 194) ging die Große Beschwerdekammer weiter: Obwohl die im Erteilungsbeschluss genannten Unterlagen Bestandteil des Erteilungsbeschlusses werden, können sie nicht nach R. 140 EPÜ berichtigt werden. Da R. 140 EPÜ nicht zur Berichtigung des Wortlauts eines Patents herangezogen werden könne, sei ein Antrag des Patentinhabers auf eine solche Berichtigung zu jedem Zeitpunkt – d. h. auch im Einspruchs- und Beschränkungsverfahren – unzulässig (mittlerweile ständige Rechtsprechung, s. z. B. T 2051/10, T 657/11, T 1578/13, T 164/14). Diese Entscheidung der Großen Beschwerdekammer beschränkt sich auf Berichtigungen der Beschreibung, der Ansprüche und der Zeichnungen in Erteilungsbeschlüssen (Patentdokumenten) und befasst sich nicht mit Berichtigungen der bibliografischen Daten.
Die Große Beschwerdekammer führte aus, dass die fehlende Möglichkeit, eine Berichtigung des Patents nach R. 140 EPÜ zu beantragen, den Patentinhaber keineswegs benachteiligt. Wenn eine Berichtigung offensichtlich ist (was sie sein muss, um R. 140 EPÜ zu genügen), dann kann sie nicht überraschend sein und keine nachteiligen Wirkungen für Einsprechende oder Dritte haben, weil alle Betroffenen das Patent so lesen, als ob es berichtigt wäre, und es einer tatsächlichen Berichtigung gar nicht bedarf. Wenn eine Berichtigung dagegen nicht sofort offensichtlich ist, dann darf sie ohnehin nicht nach R. 140 EPÜ zugelassen werden, weil diese Regel nur die Berichtigung "offenbarer Unrichtigkeiten" erlaubt. Wenn der Anmelder, der ja die Möglichkeit hat, den Wortlaut des Patents vor der Einverständniserklärung zu überprüfen, die Prüfungsabteilung nicht auf Fehler aufmerksam macht und dadurch sicherstellt, dass er sich nur mit der korrekten Fassung einverstanden erklärt, dann sollte er allein die Verantwortung für etwaige nach Erteilung in dieser Fassung verbliebene Fehler tragen, unabhängig davon, ob sie von ihm selbst oder von der Prüfungsabteilung gemacht (bzw. eingefügt) wurden.
Wenn hingegen die Prüfungsabteilung einen Erteilungsbeschluss erlässt, der einen später von ihr verschuldeten Fehler enthält, sodass die erteilte Fassung nicht mit der vom Anmelder genehmigten übereinstimmt, dann ist der Patentinhaber dadurch beschwert und kann den Beschluss anfechten. Der Patentinhaber hat die Möglichkeit, im Einspruchs- oder Beschränkungsverfahren eine Änderung seines Patents anzustreben und dadurch die mutmaßliche Unrichtigkeit auszuräumen; diese Änderung muss jedoch alle für Änderungen geltenden rechtlichen Erfordernisse erfüllen, einschließlich derer des Art. 123 EPÜ.
In T 806/21 befand die Kammer mit Verweis auf G 1/10, dass R. 140 EPÜ nicht zur Berichtigung von Patenten herangezogen werden kann. Die Anwendbarkeit der Regel wird in G 1/10 ohne Einschränkung ausgeschlossen.
Die Kammer in T 506/16 entschied, dass es nach G 1/10 dem Anmelder obliegt, die zur Erteilung vorgesehene Fassung des Patents zu prüfen, und wenn dieser die Prüfungsabteilung nicht auf etwaige Fehler hinweist, er allein die Verantwortung für etwaige in der gebilligten Fassung verbliebene Fehler trägt, unabhängig davon, wer diese Fehler verschuldet hat.
In T 2051/10 machte der Beschwerdeführer eine fehlerhafte Abweichung des Wortlauts der erteilten Patentschrift vom Text des Druckexemplars geltend und beantragte die "Korrektur" dieser Abweichung. Mit Verweis auf G 1/10 stellte die Kammer fest, dass eine solche "Korrektur" weder unter R. 139 EPÜ noch unter R. 140 EPÜ möglich ist, und behandelte diese im Folgenden als "normale" Anträge auf Änderung nach Art. 123 (1) EPÜ.
In T 1003/19 wich die Kammer nicht von G 1/10 ab und befand, dass R. 140 EPÜ nicht herangezogen werden kann, bekräftigte aber das Recht, den Erteilungsbeschluss anzufechten, wenn die erteilte Fassung vom Anmelder nicht gebilligt wurde. Der ihr vorliegende Fall sei ein Beispiel dafür. G 1/10 stützt sich auf das Erfordernis nach R. 71 (3) EPÜ, dass der Anmelder über die Fassung unterrichtet werden muss, in der die Prüfungsabteilung das Patent zu erteilen beabsichtigt, und behandelt die möglichen Reaktionen des Anmelders darauf, wie etwa das implizite Einverständnis mit dieser Fassung. Im Gegensatz dazu stützte sich die hier vorliegende Entscheidung auf die nachweisliche Tatsache, dass die von der Prüfungsabteilung für die Erteilung vorgesehene Fassung dem Beschwerdeführer nicht mitgeteilt worden war und R. 71 (5) EPÜ daher (noch) nicht anwendbar war.
In T 2081/16 bestätigte die Kammer T 1003/19 und urteilte: Wenn dem Anmelder nicht die für die Erteilung vorgesehene Fassung nach R. 71 (3) EPÜ mitgeteilt wird, ist nicht entscheidend, dass der Beschwerdeführer anschließend eine Übersetzung eingereicht und die Erteilungs- und Veröffentlichungsgebühr entrichtet hat. Die Bestimmungen der R. 71 (5) EPÜ beziehen sich in dieser Hinsicht auf R. 71 (3) EPÜ und setzen voraus, dass dem Anmelder nicht nur irgendeine Fassung mitgeteilt wurde, sondern die für die Erteilung vorgesehene Fassung.
In T 1846/20 verwies der Beschwerdeführer zur Stützung seiner Argumentation auf T 1003/19. Für die Kammer unterschied sich der vorliegende Fall jedoch von T 1003/19, weil der Beschwerdeführer keine Beschwerde gegen den Erteilungsbeschluss eingelegt hatte. Dieser war somit rechtskräftig geworden, und das erteilte Patent unterlag nicht mehr der rechtlichen Zuständigkeit des EPA (G 1/10). Der Anmelder hatte auch das Druckexemplar genehmigt, das die fraglichen Zeichnungen nicht enthielt.
- T 0387/25
In case T 0387/25 the patent proprietors had appealed the examining division's decision to grant a patent because the drawings had been omitted in the supporting documents indicated in the communication pursuant to R. 71(3) EPC.
The board noted that in the present case the drawings clearly formed part of the application as originally filed, and also of the application documents on which the European regional phase was to be based. The appellants explicitly maintained the "drawings as presently on file" in their submissions during examination proceedings when filing amended claims. They never agreed to the omission of the drawings, and in particular did not expressly agree to the text intended for grant in the communication pursuant to R. 71(3) EPC. This distinguishes the present case from the situations underlying T 2277/19 and T 2864/18.
Following decisions T 2081/16, T 1003/19, T 408/21, T 1823/23 and T 1224/24, the board held that the legal consequence outlined in R. 71(5) EPC (the deemed approval of the notified text) did not apply in the present case. According to the board, it is not sufficient that an applicant, having received a communication formally referring to R. 71(3) EPC, pays the required fee and files the required translations. The legal consequence of R. 71(5) EPC only arises if the communication sent also complies with the substantive requirements of R. 71(3) EPC, i.e. it actually contains the text in which the examining division intends to grant the patent, on the basis of the documents filed by the applicant, possibly supplemented by individual marked amendments..
The present board noted that the strict approach to the mechanism of R. 71 EPC advocated in T 265/20, in which the competent board did not follow the approach taken in T 1003/19 and T 2081/16, was not applied in the later decisions T 408/21, T 1823/23 and T 1224/24. In addition, the circumstances of the case at hand differed even more from the situation underlying T 265/20. In the present case, the appellants had in fact brought the relevant error, i.e. the omission of all the drawing sheets by the EPO – over which they had no influence – to the EPO's attention when it first occurred. In this case, the formalities officer's reply led them to understand that the drawing sheets would be taken into account in the event of a B1 publication. It followed that the decision to grant was based on an application in a text which was neither submitted nor agreed by the applicants, so the requirements of Art. 113(2) EPC had not been complied with. Hence, the board decided that the appeal was admissible and the decision under appeal was to be set aside.
According to the board, it has been established case law since T 1003/19 that an examining division's error in compiling the documents intended for grant in a communication under R. 71(3) EPC that makes a clearly unintentional omission of part of the documents proposed by the applicant for grant as indicated in the applicant's last request can still be corrected if the applicant files an appeal against the subsequent grant of the patent within the time limit under Art. 108 EPC, at least if the applicant did not explicitly consent to the incorrect compilation. T 265/20 did not support that case law; but this remained a single decision and was not followed by other boards..
The board held that the present decision did not deviate from G 1/10. It found that a referral to the Enlarged Board of Appeal was not required either to ensure uniform application of the law or to align the case law and Guidelines (see points 3.1 to 3.9.5 of the Reasons).
The board noted that the Guidelines, e.g. in H-VI, do not properly distinguish between cases where a mistake was already contained in an applicant's request or was explicitly approved by an applicant, and cases like the one at hand: where an examining division, by mistake and unintentionally, deviated from the appellant's latest request when listing the documents intended for grant in a communication under R. 71(3) EPC and this was neither pointed out to the applicant nor explicitly acknowledged by it. However, a divergence between the Guidelines and the case law of the boards is not necessarily a reason for a referral to the Enlarged Board. Rather, Art. 20(2) RPBA assumes that under normal circumstances it is enough to state sufficient grounds to enable the decision to be readily understood, such that the Guidelines may be adapted where necessary.