3. Das Erteilungsstadium des Prüfungsverfahrens
3.9. Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung nach Artikel 97 (2) EPÜ
Ist die Prüfungsabteilung der Auffassung, dass die europäische Patentanmeldung oder die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ nicht genügt, so weist sie nach Art. 97 (2) EPÜ (Art. 97 (1) EPÜ 1973) die Anmeldung zurück, sofern das EPÜ keine andere Rechtsfolge vorsieht.
In R 14/10 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass nach dem EPÜ keine Verpflichtung besteht, eine europäische Patentanmeldung oder ein europäisches Patent vollständig, d. h. hinsichtlich sämtlicher anhängiger Ansprüche zu prüfen, wenn ein als nicht gewährbar erachteter Anspruch aufrechterhalten wird und kein Hilfsantrag gestellt wird, der sich auf einen Anspruchssatz bezieht, der diesen nicht gewährbaren Anspruch nicht umfasst. In einem solchen Fall erfüllt die Anmeldung bzw. das Patent ein Erfordernis des EPÜ nicht und kann zurückgewiesen bzw. widerrufen werden (s. T 228/89, unter Verweis auf T 5/81, ABl. 1982, 249; s. auch T 293/86, T 398/86, T 98/88).
In T 162/88 wurde ausgeführt, dass wenn die europäische Patentanmeldung in ihrer vom Anmelder vorgelegten oder gebilligten Fassung einen Patentanspruch enthält, der nach Auffassung der Prüfungsabteilung nicht gewährbar ist, diese gemäß Art. 97 (1) EPÜ 1973 die europäische Patentanmeldung in ihrer Gesamtheit, und nicht bloß diesen Patentanspruch, zurückzuweisen hat. Unter diesen Umständen erübrigt sich dann auch eine Stellungnahme zu den eventuell vorhandenen restlichen Ansprüchen (s. auch T 117/88, T 253/89, T 228/89).
Nach T 11/82 (ABl. 1983, 479) muss eine europäische Patentanmeldung den Erfordernissen genügen, die in der Ausführungsordnung vorgeschrieben sind (s. Art. 78 (3) EPÜ 1973). Ist dies nach Ansicht der Prüfungsabteilung nicht der Fall, so muss sie nach Art. 97 (1) EPÜ 1973 die Anmeldung zurückweisen.
In einigen Entscheidungen machten die Kammern darauf aufmerksam, dass es wünschenswert sei, dass die Prüfungsabteilung eine im Beschwerdeverfahren überprüfbare Entscheidung erlasse, indem sie mit einer ausreichenden Begründung auf alle Fragen eingehe, die während des Prüfungsverfahrens vom EPA in angemessener Weise aufgeworfen und in der Erwiderung des Anmelders substantiiert abgehandelt wurden. Solche "vollständigen" Entscheidungen trügen zur Straffung des Verfahrens bei, weil sie eine Zurückverweisung an die erste Instanz unnötig machten: die Kammer könne nämlich eine Entscheidung in allen Punkten treffen, die bereits in der ersten Instanz behandelt wurden, ohne dem Beschwerdeführer eine Instanz zu nehmen (T 153/89, T 33/93, T 311/94).
In T 839/95 hatte die Prüfungsabteilung nicht, wie in Art. 97 EPÜ 1973 vorgesehen, eine Endentscheidung, sondern eine als Zwischenentscheidung im Sinne von Art. 106 (3) EPÜ 1973 bezeichnete Entscheidung erlassen, mit der sie den Hauptantrag und zwei Hilfsanträge zurückwies und erklärte, die im dritten Hilfsantrag beanspruchte Erfindung erfülle ihres Erachtens die Erfordernisse des EPÜ. Die Kammer stellte dazu fest, dass der Erlass einer Zwischenentscheidung bei Vorliegen eines gewährbaren Hilfsantrags nach den Prüfungsrichtlinien nur für Hilfsanträge im Einspruchsverfahren vorgesehen sei. Einem erstinstanzlichen Organ stehe es nicht zu, im Erteilungsverfahren in dieser Weise vorzugehen. Zweck der Zwischenentscheidung im Einspruchsverfahren sei es, dem Patentinhaber die bei Erfüllung der Formvorschriften nach R. 58 (5) EPÜ 1973 anfallenden Kosten zu ersparen, bis eine Endentscheidung über die Fassung ergehe, in der das Patent aufrechterhalten werden könne (T 89/90, ABl. 1992, 456). Dies treffe aber im Erteilungsverfahren nicht zu, weil es hier keine gegnerische Partei gebe, die Einwände gegen die vom Anmelder gebilligte Fassung erheben könnte. Die Beschwerde sei zulässig, weil der Beschwerdeführer durch die Zurückweisung seiner vorangegangenen Hilfsanträge beschwert sei.
Im Fall T 856/05 hatte der Beschwerdeführer vorgebracht, dass in der Entscheidung der Prüfungsabteilung keine Gründe für die Zurückweisung des Anspruchs 6 angeführt seien, sie daher nicht begründet sei und somit gegen R. 68 (2) EPÜ 1973 verstoße. Die Kammer war der Auffassung, dass es ausreiche, wenn die Prüfungsabteilung für ihre Entscheidung, eine europäische Patentanmeldung nach Art. 97 (1) EPÜ 1973 zurückzuweisen, einen Grund anführe, der ihrer Ansicht nach der Erteilung eines europäischen Patents entgegensteht, denn das EPÜ enthalte keine Vorschrift, die eine teilweise Erteilung eines Patents zulasse. In diesem Fall konnte die Prüfungsabteilung kein Patent erteilen, weil der Gegenstand des Anspruchs 1 ihrer Meinung nach nicht erfinderisch war. Demzufolge musste sie sich zu den übrigen Ansprüchen nicht äußern.
Eine europäische Patentanmeldung kann auch nach Art. 97 (2) und 125 EPÜ zurückgewiesen werden, wenn sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein demselben Anmelder erteiltes europäisches Patent, das nicht zum Stand der Technik nach Art. 54 (2) und (3) EPÜ gehört (G 4/19, ABl. 2022, A24). Zur Frage der Doppelpatentierung siehe auch Kapitel II.G "Verbot der Doppelpatentierung".