3. Materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs
3.3. Umfang der Prüfung der Einspruchsgründe
Laut der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer G 10/91 (ABl. 1993, 420; s. auch G 9/91, ABl. 1993, 408) ist eine Einspruchsabteilung oder eine Beschwerdekammer nicht verpflichtet, über die in der Erklärung gemäß R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) angegebenen Einspruchsgründe hinaus alle in Art. 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe zu überprüfen, kann dies aber ausnahmsweise tun. Im Einspruchsverfahren kann eine Einspruchsabteilung in Anwendung des Art. 114 (1) EPÜ einen durch die Erklärung in der Einspruchsschrift nicht abgedeckten Einspruchsgrund von sich aus vorbringen oder einen solchen vom Einsprechenden (oder nach Art. 115 EPÜ von einem Dritten) nach Ablauf der Frist gemäß Art. 99 (1) EPÜ vorgebrachten Grund prüfen, wenn prima facie triftige Gründe dafür sprechen, dass dieser Einspruchsgrund relevant ist und der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenstehen würde.
Im Einspruchsbeschwerdeverfahren ist es allerdings in der Regel gerechtfertigt, Art. 114 (1) EPÜ generell restriktiver anzuwenden. Ein neuer Einspruchsgrund sollte von der Kammer nur dann vorgebracht oder im Verfahren zugelassen werden, wenn er nach ihrer Einschätzung schon dem ersten Anschein nach hoch relevant ist und der Patentinhaber seiner Einführung in das Verfahren zustimmt (G 10/91). Näheres s. Kapitel V.A.3.2.3 h) "Neuer Einspruchsgrund im Beschwerdeverfahren".
Um Missverständnissen vorzubeugen, führte die Kammer in G 10/91 aus, dass Änderungen der Ansprüche oder anderer Teile eines Patents, die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vorgenommen werden, in vollem Umfang auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ zu prüfen sind. Wie in G 3/14 (ABl. 2015, A102) erläutert, ist der Begriff "Änderungen" dahin gehend zu verstehen, dass der zu prüfende Gegenstand in irgendeiner Weise unmittelbar mit der Änderung zusammenhängen muss. S. die Kapitel IV.C.3.5 "Einspruchsgründe, die gegen nach der Erteilung geänderte Ansprüche vorgebracht werden" und IV.C.5.2. "Prüfungsumfang bei Änderungen" (wo auch der begrenzte Umfang der Prüfung von geänderten Ansprüchen auf Erfüllung der Erfordernisse des Art. 84 EPÜ thematisiert wird).
Der Wortlaut des Art. 101 (1) EPÜ ("wenigstens ein Einspruchsgrund" im Gegensatz zu "die [...] Einspruchsgründe" in Art. 101 (1) EPÜ 1973) stellt nunmehr klar, dass die Einspruchsabteilung nicht verpflichtet ist, alle Einspruchsgründe zu prüfen. Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf Kapitel IV.C.3.4. "Neue Einspruchsgründe".
Im Anschluss an G 10/91 entschied die Kammer in T 274/95 (ABl. 1997, 99), dass die Einspruchsabteilung dann, wenn ein Einspruchsgrund in der Einspruchsschrift substantiiert, aber anschließend im Einspruchsverfahren nicht aufrechterhalten wird (hier Abgabe einer diesbezüglichen Erklärung des Einsprechenden in der mündlichen Verhandlung), nicht verpflichtet ist, diesen Einspruchsgrund weiter zu prüfen oder auf ihn in ihrer Entscheidung einzugehen, sofern er nicht so relevant ist, dass er der Aufrechterhaltung des Patents wahrscheinlich entgegensteht.
In T 223/95 befand die Kammer, dass eine Herangehensweise, bei der die Einspruchsabteilung von Amts wegen Ermittlungen durchführen würde, um den Wissensstand der Fachperson festzustellen, mit dem Charakter des der Patenterteilung nachgeschalteten Einspruchsverfahrens im Rahmen des EPÜ nicht vereinbar wäre. Das Einspruchsverfahren müsse grundsätzlich als streitiges Verfahren zwischen Parteien angesehen werden, die in der Regel gegenteilige Interessen verträten, die aber Anspruch auf die gleiche Behandlung hätten. Es sei unrealistisch anzunehmen, Beweismittel könnten seitens der Einspruchsabteilung völlig unparteiisch gesucht, zusammengetragen und ausgewählt werden. Darin unterscheide sich die Aufgabe der Prüfungsabteilungen ganz wesentlich von der der Einspruchsabteilungen. Es obliege dem Einsprechenden selber, der Einspruchsabteilung Tatsachen und Beweismittel zur Begründung seines Einspruchs anzugeben. Siehe auch T 897/19, in der die Kammer feststellte, dass Ermittlungen der Einspruchsabteilung nach Art. 114 (1) EPÜ aufgrund des Charakters des der Erteilung nachfolgenden Einspruchsverfahrens im Rahmen des EPÜ begrenzt seien.
In T 2685/19 befand die Kammer, aus der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 10/91 ergebe sich nicht, dass neben der prima facie Relevanz zwingend weitere Kriterien zu prüfen wären. Vor diesem Hintergrund konnte im zu entscheidenden Fall die Zulassung des Einspruchsgrunds der mangelnden Ausführbarkeit nicht deshalb als ermessensfehlerhaft eingeordnet werden, weil die Einspruchsabteilung zur Frage der Entschuldbarkeit der Verspätung keine ergänzenden Ausführungen gemacht hatte.