4.5.3 Prima-facie-Relevanz
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist ein entscheidendes Kriterium für die Zulassung von verspätet eingereichten Dokumenten deren Prima-facie-Relevanz, s. z. B. T 1002/92, ABl. 1995, 605; T 212/91, T 931/06, T 1883/12, T 1511/14 und T 838/17; zum Beschwerdeverfahren s. insbesondere Kapitel V.A.4.1.2, V.A.4.4.6 und V.A.4.5.5.
Die Prima-facie-Relevanz wird anhand augenscheinlicher Fakten geprüft, d. h. ohne großen Ermittlungsaufwand; bei der Berücksichtigung und Zulassung verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel ist der Verfahrensökonomie Rechnung zu tragen (T 1883/12).
In T 1348/16 befand die Kammer, dass die Einspruchsabteilung mit der Zulassung eines Dokuments, das ihrer Auffassung nach prima facie relevant war und potenziell der Aufrechterhaltung des Streitpatents entgegenstand, ihre Entscheidung auf die richtigen Grundsätze gestützt hatte und es keinen Grund gab, daran zu zweifeln, dass sie ihr Ermessen in vertretbarer Weise ausgeübt hatte. Dies wurde nicht dadurch widerlegt, dass sie später anhand einer detaillierten Analyse zu dem Schluss gelangte, dass das Dokument nicht neuheitsschädlich war und ein anderes Dokument den relevantesten Stand der Technik darstellte. Eine solche eingehende Analyse sei nicht Teil der Prima-facie-Bewertung der Relevanz eines Dokument. Siehe auch T 1614/18.
In T 1525/17 wies die Kammer darauf hin, dass es in sich widersprüchlich ist, verspätet eingereichte Dokumente einerseits bei einer eingehenden Prüfung der Patentierbarkeitsvoraussetzungen zugrunde zu legen, damit also in der Sache zu berücksichtigen, und andererseits zu erklären, diese würden nicht zum Verfahren zugelassen, wie die Einspruchsabteilung dies vorliegend getan hatte: Die eingehende Sachprüfung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigte die Dokumente E5 und E6 unter allen Gesichtspunkten. Sie wurde weder explizit als bloße Prima-facie-Prüfung der Relevanz der Dokumente bezeichnet, noch konnte sie implizit als Vorfrage der Abhandlung zur Nichtzulassung der Dokumente angesehen werden. Die Nichtzulassung war daher ermessensfehlerhaft. S. auch T 1185/15 (erforderliche gründliche Analyse im Widerspruch zu der Feststellung, dass das Dokument nicht prima facie relevant ist) und T 346/16. Siehe dazu auch T 847/20, wo die Einspruchsabteilung keine Prima-facie-Beurteilung vorgenommen, sondern die Anträge in vollem Umfang geprüft hatte, bevor sie zu dem Schluss kam, dass sie nicht zugelassen werden konnten. Nach Auffassung der Kammer hatte die Einspruchsabteilung ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt, weil sie nach der impliziten Zulassung der Anträge keinen Ermessensspielraum mehr hatte, sie nicht zuzulassen. T 2324/14 und T 2026/15 behandeln implizit zugelassene Anträge im Prüfungsverfahren, siehe Kapitel IV.B.2.4.1.
In T 838/17 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die Beurteilung der Frage, ob ein Dokument aus dem Stand der Technik die erfinderische Tätigkeit beeinträchtigt, selbst auf Prima-facie-Ebene notwendigerweise über die Beurteilung der Frage, ob dieses Dokument neuheitsschädlich ist, hinausgehen muss. Die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit erschöpfe sich nicht in der Feststellung eines Unterschieds. Während das Fehlen eines Unterschieds ausreicht, um den Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit zu begründen, reicht die Feststellung eines Unterscheidungsmerkmals nicht aus, um nachzuweisen, dass die Erfindung nicht naheliegend gewesen wäre. Selbst wenn die Argumentation des Einsprechenden nicht über die Behauptung hinausgehen sollte, dass kein Unterschied vorlag, erfordere eine ordnungsgemäße Ermessensausübung zumindest eine Begründung dafür, warum die Einspruchsabteilung keinen Grund für die Annahme sah, dass der Unterschied offensichtlich gewesen wäre.
In T 1614/18 stellte die Kammer unter Bezugnahme auf die zum maßgeblichen Zeitpunkt geltende Fassung der Richtlinien fest, dass die zuständige Abteilung ein verspätet eingereichtes und "prima facie" relevantes Beweismittel unabhängig vom Verfahrensstand und den Gründen für das verspätete Vorbringen berücksichtigen muss. Die Tatsache, dass sich die vermutete Relevanz nach der Diskussion in der mündlichen Verhandlung nicht bestätigte, impliziere nicht, dass das Ermessen falsch ausgeübt wurde. Im vorliegenden Fall war die Verfahrensökonomie unbeachtlich, da D6 zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung eingereicht worden war und daher vernünftigerweise kein unzumutbarer Aufwand mit negativen Auswirkungen auf die Position des Beschwerdeführers geltend gemacht werden konnte.
In T 2716/19 entschied die Kammer, dass die Einspruchsabteilung das Kriterium der Prima-facie-Relevanz in unangemessener Weise angewandt hatte, weil sie ihre Beurteilung auf den Gegenstand des damaligen Hauptantrags beschränkt hatte. Sie hätte den Gegenstand der in der Akte befindlichen Hilfsanträge miteinbeziehen müssen.
In T 21/22 hatte die Einspruchsabteilung die verspätet eingereichte Entgegenhaltung D20 umfassend im Hinblick auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit geprüft und war zu dem Schluss gelangt, dass sie aufgrund ihrer verspäteten Einreichung und der Tatsache, dass sie nicht prima facie relevant sei, nicht zugelassen werden sollte. Die Einspruchsabteilung hatte also nicht nur eine bloße Prima-facie-Prüfung durchgeführt, sondern D20 und die darauf gestützten Einwände einer eingehenden Prüfung unterzogen. Die Kammer vertrat daher die Auffassung, dass die Einspruchsabteilung keinen Ermessensspielraum hatte, das Dokument D20 nicht zum Verfahren zuzulassen, da die Einspruchsabteilung es de facto bereits vollständig berücksichtigt (und damit implizit zugelassen) hatte.