4.1. Einleitung
4.1.2 Vorrangiges Ziel des Beschwerdeverfahrens und Konvergenzansatz hinsichtlich Änderungen des Beteiligtenvorbringens
Im Einklang mit dem in den Entscheidungen G 9/91 (ABl. 1993, 408, Nr. 18 der Gründe) und G 10/93 (ABl. 1995, 172, Nr. 4 der Gründe; s. auch z. B. T 2194/14, T 1102/15, T 343/16 und T 632/16) angeführten Grundsatz verweist die 2020 in Kraft getretene VOBK in ihrem neuen Art. 12 (2) VOBK darauf, dass das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens darin besteht, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen. In zahlreichen Entscheidungen wird in der Begründung auf diesen Grundsatz verwiesen, wenn die Bestimmungen der VOBK zur Anwendung kommen, die neues Vorbringen im Beschwerdeverfahren regeln (siehe z. B. J 3/20, T 2214/15, T 786/16, T 256/17, T 2778/17, T 1422/17, T 1456/20, T 1963/20).
Für Ex-parte-Verfahren erinnerte T 913/20 jedoch daran, dass die Kammern nach den in G 10/93 (ABl. 1995, 172) dargelegten Grundsätzen befugt sind zu prüfen, ob die Anmeldung oder die Erfindung, auf die sie sich bezieht, die Erfordernisse des EPÜ erfüllt, einschließlich der Erfordernisse, Einwände oder Beweismittel, die die Prüfungsabteilung nicht berücksichtigt hat.
Für Einspruchsverfahren rief die Kammer in T 1117/16 mit Verweis auf die zur VOBK 2007 ergangene Rechtsprechung (s. RBK, 10. Aufl. 2022, V.A.5.2.1) in Erinnerung, dass in Anbetracht des vorrangigen Ziels des Beschwerdeverfahrens, das nun in Art. 12 (2) VOBK verankert ist, der faktische und rechtliche Rahmen des Einspruchsverfahrens weitestgehend für das nachfolgende Beschwerdeverfahren bestimmend ist. Damit sind den Beteiligten in ihrer Verfahrensführung gewisse Grenzen gesetzt, die sich im zweiseitigen Verfahren namentlich aus dem Prinzip der Fairness gegenüber den anderen Beteiligten sowie generell aus den Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Verfahren ergeben. Insbesondere sind die Beteiligten im zweiseitigen Verfahren auch zur sorgfältigen und beförderlichen Verfahrensführung verpflichtet. Siehe auch T 2482/22, wo die Kammer das Argument zurückwies, dass Bedenken betreffend die Wirksamkeit der vom EPA erteilten Patente Vorrang gegenüber allen sonstigen Bedenken hätten.
Eine Folge davon, dass die Aufgabe der Kammern in erster Linie darin besteht, die angefochtene Entscheidung zu überprüfen, ist in der Tat, dass die Beteiligten im Verlauf des Beschwerdeverfahrens immer weniger Möglichkeiten zur Änderung ihres Vorbringens erhalten (siehe z. B. T 1370/15, T 2778/17 und CA/3/19, Abschnitt V.B.c), Nr. 48). Dieser "Konvergenzansatz" (auf den in zahlreichen Entscheidungen bei der Auslegung der betreffenden Bestimmungen der überarbeiteten VOBK Bezug genommen wird, siehe z. B. T 2214/15, T 2227/15, T 2279/16, T 2778/17) umfasst drei Stufen, die in Art. 12 (4), 13 (1) und 13 (2) VOBK geregelt sind. Welche dieser Bestimmungen Anwendung findet, hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt ein Beteiligter sein Vorbringen ändert:
– zu Beginn des Beschwerdeverfahrens – Stufe 1 des Konvergenzansatzes – Art. 12 (4) VOBK;
– nach Einreichung der Beschwerdebegründung oder Erwiderung durch den Beteiligten – Stufe 2 des Konvergenzansatzes – Art. 13 (1) VOBK, der eine Bezugnahme auf Art. 12 (4) bis (6) VOBK enthält;
– nach Ablauf der in einer Mitteilung nach R. 100 (2) EPÜ gesetzten Frist oder nach Zustellung einer Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK (seit 1. Januar 2024, vorher: Ladung zur mündlichen Verhandlung) – Stufe 3 des Konvergenzansatzes – Art. 13 (2) VOBK (und die Kriterien nach Art. 13 (1) VOBK, siehe unten).
Diese Bestimmungen sind, soweit die jeweiligen Voraussetzungen erfüllt sind,dementsprechend kumulativ anwendbar.
Die Erfordernisse der ersten Stufe des Konvergenzansatzes – die in Art. 12 (4) bis (6) VOBK festgelegt sind – gelten während des gesamten Beschwerdeverfahrens. Durch ausdrücklichen Verweis auf Art. 12 (4) bis (6) VOBK wird in Art. 13 (1) VOBK klargestellt, dass die dort angegebenen Kriterien entsprechend auch für jedes Vorbringen gelten, das erfolgt, nachdem ein Beteiligter seine Beschwerdebegründung oder Erwiderung eingereicht hat.
Bezüglich Art. 13 (1) VOBK haben zahlreiche Entscheidungen bestätigt, dass die Kriterien dieser Bestimmung auch auf der dritten Stufe des Konvergenzansatzes angewendet werden können (siehe z. B. T 584/17 mit einer ausführlichen Erläuterung basierend auf den vorbereitenden Arbeiten im Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Art. 13 (2) VOBK, vierter Absatz; s. auch T 2227/15, T 172/17 und T 574/17). Dies wiederum bietet die Möglichkeit, sich auf die Kriterien aus Art. 12 (4) bis (6) VOBK zu berufen, auf in Art. 13 (1) VOBK Bezug genommen wird (T 487/20; siehe auch T 2486/16, T 2429/17 und T 1058/20).
Alle Entscheidungen hinsichtlich der Erfordernisse der ersten Stufe des Konvergenzansatzes nach Art. 12 (4) bis (6) VOBK werden in Kapitel V.A.4.3 "Erste Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen in der Beschwerdebegründung und Erwiderung – Artikel 12 (3) bis (6) VOBK" aufgeführt, unabhängig von der Phase des Verfahrens, in der die betreffenden Vorbringen eingereicht wurden.
Für weitere Einzelheiten zur Anwendung der Kriterien von Art. 13 (1) VOBK auf der dritten Stufe siehe Kapitel V.A.4.5.1 a), V.A.4.5.1 g) and V.A.4.5.4 e). Die Bestimmungen von Art. 12 (4), 13 (1) und 13 (2) VOBK gelten nur für Fälle, bei denen ein Beteiligter sein Vorbringen geändert hat (im Falle des Art. 12 (4) VOBK sein Vorbringen in erster Instanz oder in dem des Art. 13 (1) und (2) VOBK sein Beschwerdevorbringen). Eine Übersicht über Entscheidungen zu dieser vorab zu klärenden Frage, ob neues Vorbringen eine Änderung darstellt, ist in Kapitel V.A.4.2. "Änderung des Vorbringens eines Beteiligten" enthalten.
Zu verspätet eingereichten Einwendungen Dritter im Beschwerdeverfahren siehe Kapitel III.N.3.2 und III.N.4.4.
In R 4/22 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die Rechtsprechung des EGMR keine Anhaltspunkte dafür gibt, einschränkende Regelungen wie die des Konvergenzansatzes grundsätzlich in Frage zu stellen oder ihrer Anwendung generell die Vereinbarkeit mit Art. 6 EMRK abzusprechen.