5.1. Zulässigkeit der Änderungen
5.1.6 Der Begriff "verspätet" und seine Auswirkungen auf das Ermessen
In T 487/13 urteilte die Kammer, dass die Einspruchsabteilung durch ihre Entscheidung, die Hilfsanträge 4 bis 6 nicht zuzulassen, unmittelbar nachdem das verspätet eingereichte Dokument D10 zum Verfahren zugelassen worden war, den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör missachtet habe, der untrennbar mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung verbunden sei. Da diese neuen Anträge in unmittelbarer Reaktion auf einen Wechsel des Verfahrensgegenstands eingereicht worden seien, sei ihre Einreichung rechtzeitig erfolgt, und es liege nicht im Ermessen der Einspruchsabteilung, sie außer Acht zu lassen.
Auch in T 754/16 hatte die Einspruchsabteilung die in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträge 8 und 9 aufgrund einer Prima-facie-Prüfung (unter Bezugnahme auf Art. 114 (2) EPÜ und R. 116 EPÜ) nicht zugelassen. Die Kammer stellte fest, dass damit zunächst einmal vorausgesetzt wurde, dass die Anträge verspätet seien (und bestätigte damit T 273/04). Dies traf allerdings nicht zu, denn die Einreichung der Hilfsanträge war eine direkte Reaktion auf die Meinungsänderung der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung gewesen. Gemäß R. 116 (2) EPÜ können Anträge, die nach dem festgesetzten Stichtag für die Einreichung von Schriftsätzen eingehen, nur dann nicht zugelassen werden, wenn dem Patentinhaber die Gründe mitgeteilt worden sind, die der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen. Dies war hier nicht der Fall. Siehe auch T 586/16.
In T 966/17 erklärte die Kammer jedoch, dass R. 79 (1) EPÜ im Einspruchsverfahren dem Patentinhaber die Möglichkeit eröffnet, innerhalb einer von der Einspruchsabteilung gesetzten Frist die Beschreibung, die Patentansprüche und die Zeichnungen zu ändern. Die Zulassung späterer Änderungen steht dagegen im Ermessen der Einspruchsabteilung, wie sich etwa aus R. 81 (3) EPÜ erkennen lässt. Die Kammer befand, dass eine Änderung der Auffassung der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung in Bezug auf ihre mit der Ladung kommunizierte vorläufige Meinung alleine nicht dazu führen kann, dass in der mündlichen Verhandlung beliebige Anträge ohne ein Ermessen der Einspruchsabteilung zugelassen werden müssen. Soweit der Beschwerdeführer mit neuen Anträgen auf eine neue Angriffslinie des Einsprechenden und ein neu eingereichtes Dokument reagiert, könne bei der Entscheidung über die Zulassung berücksichtigt werden, ob die Anträge prima facie gewährbar erscheinen oder ohnehin aufgrund anderer schon länger im Verfahren befindlicher Einwände zurückzuweisen wären. Siehe auch T 908/19 und T 1523/22, in denen die Kammer befand, dass die jeweiligen Hilfsanträge rechtzeitig gemäß R. 79 (1) EPÜ eingereicht worden seien und dass die Frage, ob sie "eindeutig gewährbar" waren, daher nicht relevant sei; den Einspruchsabteilungen stand bei der Frage der Zulässigkeit kein Ermessensspielraum zu.
Ein anderer Ansatz wurde in R 6/19 verfolgt. In dieser Entscheidung hob die Große Beschwerdekammer hervor, dass das Recht nach Art. 123 (1) Satz 2 EPÜ auf mindestens eine Gelegenheit zur Änderung sich nicht auf einen Patentinhaber im Einspruchsverfahren erstrecke. Hier werde der Einspruchsabteilung durch Art. 123 (1) Satz 2 EPÜ das Ermessen eingeräumt, derartige Anträge zurückzuweisen.
In T 1776/18 analysierte die Kammer, ob die Formulierung "verspätet vorgebracht" aus Art. 114 (2) EPÜ auf feste Kriterien, wie einen bestimmten Verfahrenszeitpunkt, oder auf relative Kriterien, wie einzelne Entwicklungen im Verfahren, abstellt. Sie sprach sich gegen relative Kriterien aus und stellte u. a. fest, dass die VOBK in Bezug auf Beschwerdeverfahren Art. 114 (2) EPÜ grundsätzlich verbindlich umsetzt (T 1042/18) und sich zur Beantwortung der Frage, ob es im Ermessen der Kammer liegt, einen bestimmten Vortrag nicht zuzulassen, auf feste Kriterien stützt. Nach Ansicht der Kammer ist dieser Ansatz auch für Einspruchsverfahren vorzuziehen, da ein Ansatz, der auf relativen, an einzelne prozessuale Umstände gebundenen Kriterien beruht, den gravierenden Nachteil hat, dass das Ermessen der Einspruchsabteilung dann nicht klar und vorhersehbar durch das Gesetz selbst abgegrenzt ist. Hinsichtlich der Auslegung von R. 116 (2) EPÜ in Bezug auf Einspruchsverfahren konnte sich die Kammer der Auffassung in T 754/16 nicht anschließen, wonach Anträge, die nach dem festgesetzten Zeitpunkt für die Einreichung von Schriftsätzen eingehen, nur dann nicht zugelassen werden, wenn dem Patentinhaber Gründe mitgeteilt worden sind, die der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen (siehe auch T 1171/20). Hauptzweck der Aufforderung des Patentinhabers zur Einreichung geänderter Anspruchsanträge nach R 116 (2) EPÜ sei es, das Einspruchsverfahren zu beschleunigen und den Patentinhaber daran zu hindern, entsprechende Anträge nach dem in R. 116 (1) EPÜ festgelegten Zeitpunkt einzureichen. Die Kammer befand, dass R. 116 (2) EPÜ das Ermessen der Einspruchsabteilung nach Art. 114 (2) EPÜ und R. 116 (1) EPÜ nicht einschränkt. Ihrer Auffassung nach hängt dieses in der Regel nicht vom Inhalt der Mitteilung der Einspruchsabteilung nach R. 116 (1) EPÜ ab. Hat jedoch die Einspruchsabteilung den Patentinhaber aufgefordert, einen geänderten Anspruchsantrag einzureichen, um einem konkreten Einwand zu begegnen, und ist der Patentinhaber dieser Aufforderung nicht durch Einreichung der geforderten Änderungen innerhalb des nach R. 116 (1) EPÜ bestimmten Zeitraums nachgekommen, so kann sich das Ermessen der Einspruchsabteilung, diesen Anspruchsantrag nicht zuzulassen, praktisch auf null reduzieren.
Die Kammer in T 921/21 betonte, dass – selbst wenn man von der in T 1776/18 vertretenen Auffassung ausgehe – die Einspruchsabteilung ihrem Ermessen die richtigen Kriterien zugrunde legen musste. Vorliegend sei jedoch von der Einspruchsabteilung ein unzulässiges Kriterium zumindest mitberücksichtigt worden, nämlich dass die Anträge so außergewöhnlich spät eingereicht worden seien, dass ein Abweichen von dem normalerweise geltenden Prinzip gerechtfertigt sei, Anträge zuzulassen, die in Reaktion auf von der Gegenseite verspätet eingereichte Tatsachen eingereicht wurden. Die Kammer merkte an, dass die Annahme, dass der Patentinhaber den Schriftsatz des Einsprechenden nicht erst mit dessen Übermittlung durch das EPA am 20. Januar 2021, sondern bereits vor Weihnachten zur Kenntnis genommen habe, spekulativ sei und vom Beschwerdeführer bestritten wurde. Damit sei die Ermessensausübung fehlerhaft.
In T 364/20 wurden Hilfsanträge nach Ablauf der nach R. 79 (1) EPÜ gesetzten Frist und vor Ablauf der nach R. 116 (1) EPÜ gesetzten Frist gestellt. Die Kammer wies darauf hin, dass die Kammer in T 221/20 unter ähnlichen Umständen die Hilfsanträge für zulässig erachtet hatte. Nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass jeder nach Ablauf der nach R. 79 (1) EPÜ gesetzten Frist und vor Ablauf der nach R. 116 (1) EPÜ gesetzten Frist eingereichte Anspruchsantrag automatisch rechtzeitig eingereicht und damit zulässig gestellt wurde. Vielmehr komme es darauf an, ob der Antrag als unmittelbare und rechtzeitige Erwiderung auf eine vom Einsprechenden oder von der Einspruchsabteilung bewirkte Änderung des Verfahrensgegenstandes eingereicht wurde. Unter Verweis auf T 966/17 stellte die Kammer fest, dass es im Ermessen der Einspruchsabteilungen liegt, einen verspätet eingereichten Antrag nicht zuzulassen, wenn eine Entscheidung über die Zulassung erforderlich ist. Es liege daher im Ermessen der Kammern, einen verspätet eingereichten Anspruchsantrag als nicht in zulässiger Weise vorgebracht anzusehen (siehe auch V.A.4.2.2 c)).