4.3.6 Im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassenes Vorbringen – fehlerhafte Ermessensausübung – Artikel 12 (6) Satz 1 VOBK
Bei der Anwendung von Art. 12 (6) Satz 2 VOBK überprüfen die Kammern im Einspruchsbeschwerdeverfahren auch die Bewertung des Vorbringens als verspätet und prüfen, ob die Einspruchsabteilung zu Recht keine Rechtfertigung für die späte Einreichung gesehen hatte.
In T 214/20 beispielsweise stimmte die Kammer mit der Einspruchsabteilung darin überein, dass die vom Patentinhaber in Erwiderung auf ein bestimmtes Argument des Einsprechenden vorgelegten Schriftstücke als verspätet eingereicht anzusehen waren, weil dieser sie bereits hätte einreichen müssen, als das Argument erstmal vorgebracht wurde.
Auch in T 1017/20 befand die Kammer, dass der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hauptantrag nicht durch eine unerwartete Entwicklung gerechtfertigt war und somit verspätet eingereicht worden war. Den Einwand, der damit angeblich ausgeräumt werden sollte, hatte der Einsprechende bereits in seiner Einspruchsschrift erhoben.
In T 1445/22 betonte die Kammer, dass vom Einsprechenden nach Ablauf der Neunmonatsfrist gemäß Art. 99 (1) EPÜ eingereichte Beweismittel im Allgemeinen als verspätet zu betrachten sind. Eine Ausnahme bilde nur der Fall, in dem diese Beweismittel nicht früher hätten eingereicht werden können, weil sich z. B. der Verfahrensgegenstand geändert hat. Die Beantwortung der Frage, ob ein Vorbringen rechtzeitig vorgetragen wurde, darf nicht von verfahrensexternen Umständen abhängen.
Ausführlich zum Thema verspätete Einreichung von Haupt- und Hilfsanträgen des Patentinhabers im Einspruchsverfahren siehe Kapitel IV.C.5.1.4 und von Einwänden und Beweismitteln im Einspruchsverfahren siehe Kapitel IV.C.4.2.