4.3.6 Im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassenes Vorbringen – fehlerhafte Ermessensausübung – Artikel 12 (6) Satz 1 VOBK
Die Prima-facie-Relevanz ist ein anerkanntes Kriterium für die Beurteilung der Zulässigkeit verspätet eingereichter Einwände im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren (s. z. B. T 2883/19). In zahlreichen Entscheidungen sind die Kammern zu dem Ergebnis gekommen, dass die Einspruchsabteilung, die das Kriterium der Prima-facie-Relevanz angewendet hat, die richtigen Grundsätze zugrunde gelegt und diese im jeweiligen Fall in vertretbarer Weise angewandt hat (s. z. B. T 3166/19, T 415/20, T 687/20, T 803/21, T 214/20).
T 1161/20 illustriert, wie es wichtig ist zu begründen, warum eine Entscheidung der Einspruchsabteilung, Einwände nicht zuzulassen, falsch war.
(i) Nichteinverständnis eines Beteiligten mit dem Ergebnis der materiellrechtlichen Beurteilung – nicht ausreichend als Nachweis einer fehlerhaften Ermessensausübung
Das bloße Nichteinverständnis eines Beteiligten mit dem Ergebnis der materiellrechtlichen Beurteilung der Einspruchsabteilung ist noch kein ausreichendes Indiz dafür, dass eine Entscheidung ermessensfehlerhaft war, wie z. B. in T 2883/19 betont wurde. In ihrer Entscheidung hob die Kammer außerdem hervor, dass nicht ersichtlich war, dass die Einspruchsabteilung bei ihrer Beurteilung der Prima-facie-Relevanz des betreffenden Einwands der Gegenstandserweiterung von offensichtlich falschen technischen Annahmen ausgegangen war. In Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (6) VOBK ließ sie diesen Einwand also nicht zum Beschwerdeverfahren zu.
Auch in T 61/21 ließ die Kammer das Argument des Beschwerdeführers (Einsprechenden) nicht gelten, dass die Einspruchsabteilung bei ihrer Entscheidung, D10 als prima facie nicht relevant nicht zum Verfahren zuzulassen, fälschlicherweise der vermeintlichen Entferntheit dieses Dokuments zu große Bedeutung beigemessen habe.
In T 307/22 allerdings überprüfte die Kammer die materiellrechtliche Grundlage (gültige Inanspruchnahme der Priorität) einer Nichtzulassungsentscheidung der Einspruchsabteilung. Die Vorinstanz hatte nach Ansicht der Kammer verkannt, dass der beanspruchten Erfindung nur eine Teilpriorität zukam. Die Kammer übte daher eigenes Ermessen aus. Die betreffende Entgegenhaltung D7 ließ sie aber dennoch wegen mangelnder Relevanz für die Neuheit nicht zu. Die Relevanz für die erfinderische Tätigkeit hatte der Beschwerdeführer erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen.
(ii) Ungenügend begründete Ermessensentscheidung – fehlerhafte Ermessensausübung
In T 2055/20 befand die Kammer, dass die Einspruchsabteilung in ihrer schriftlichen Entscheidung lediglich eine unbegründete Aussage zur Nichtzulassung des in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags 1 getroffen hatte. Sie hatte insbesondere nicht begründet, warum dieser Antrag den Einwand prima facie nicht ausräumte. Zudem waren laut der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung bei der Erörterung der Zulassung dieses Antrags nur Fragen der Gegenstandserweiterung aufgeworfen und mit den Beteiligten besprochen worden. Die Kammer befand daher, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung das Ergebnis einer fehlerhaften Ermessensausübung war und ließ den Antrag zum Verfahren zu.
In der Sache T 1657/20 ging aus der angefochtenen Entscheidung nicht vollständig hervor, auf welcher Tatsachengrundlage die Einspruchsabteilung ihre Ermessensentscheidung getroffen hatte. Insbesondere begründete diese die fehlende Prima-facie-Relevanz nur im Hinblick auf Anspruch 1 des Hauptantrags, nicht aber hinsichtlich des breiteren Anspruchs 15. Auch blieb fraglich, inwieweit die Einspruchsabteilung eine Prüfung auf Prima-facie-Relevanz für erfinderische Tätigkeit vorgenommen hatte. Die Kammer übte daher ihr eigenes Ermessen aus und ließ A8 nach Art. 12 (4) und (6) VOBK zum Beschwerdeverfahren zu.
Siehe auch T 1324/21 (unternehmensinterne Informationen über öffentlich zugängliche Tabletten nicht irrelevant, da es keine Grundlage für die Annahme gab, dass die Analyse des maßgeblichen Merkmals für die Fachperson mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden wäre).