4.3.7 Vorbringen, das im erstinstanzlichen Verfahren vorzubringen gewesen wäre oder dort nicht mehr aufrechterhalten wurde – Artikel 12 (6) Satz 2 VOBK
In mehreren Entscheidungen kamen die Kammern zu dem Ergebnis, dass unter den jeweiligen Umständen des konkreten Falls der zu beurteilende neue (Hilfs-)Antrag, der in Erwiderung auf einen neuen, in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung erhobenen Einwand eingereicht worden ist, nicht gemäß Art. 12 (6) Satz 2 VOBK bereits in dieser mündlichen Verhandlung vorzubringen gewesen wäre.
In T 218/20 hatte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) die Hilfsanträge 1 bis 5 zusammen mit seiner Beschwerdeerwiderung eingereicht. Die Kammer akzeptierte, dass diese Anträge als Reaktion auf die neuen, erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erhobenen Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit eingereicht worden waren. Ihrer Auffassung nach bestand zu jenem Zweitpunkt keine Notwendigkeit, weitere Hilfsanträge einzureichen, da die Einspruchsabteilung nicht von diesen Einwänden überzeugt war. Der Beschwerdegegner hatte also die erste Gelegenheit zur Reaktion auf diese Angriffe genutzt. Die Kammer erachtete die Anträge zudem für eine augenscheinlich angemessene und faire und somit im Sinne des Art. 12 (4) VOBK gerechtfertigte Reaktion. In ähnlicher Weise wurde in T 121/20 und T 172/20 entschieden. Siehe auch die in Kapitel V.A.4.3.7 c) zusammengefassten Entscheidungen.
In T 315/21 prüfte die Kammer, ob der Beschwerdeführer (Patentinhaber) die fragliche Änderung (Streichung eines Kommas im Hauptantrag, der der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag) bereits in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung hätte beantragen müssen, als der entsprechende Einwand der mangelnden Klarheit das erste Mal erhoben worden war. Die Kammer stellte fest, dass dieser Einwand zusammen mit mehreren weiteren Klarheitseinwänden geltend gemacht worden war, von denen einige ebenfalls neu waren, und dass der Patentinhaber außerstande war, in der ihm zur Verfügung stehenden kurzen Zeit in der mündlichen Verhandlung angemessen auf diese komplexe Situation zu reagieren. Auch hatte er diese Situation nicht zu vertreten, hatte er doch den damaligen Hauptantrag mehr als anderthalb Jahre vor der mündlichen Verhandlung eingereicht. Nach Auffassung der Kammer hätte der Patentinhaber den vorliegenden Hauptantrag also nicht bereits in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung einreichen müssen.
In T 849/22 war der neue Hauptantrag im Wesentlichen identisch mit dem Hauptantrag aus dem Einspruchsverfahren – bis auf eine Änderung, mit der ein erstmals in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung erhobener Einwand nach R. 80 EPÜ ausgeräumt werden sollte. Die Kammer erklärte, dass der Antrag theoretisch in dieser mündlichen Verhandlung hätte eingereicht werden können. Allerdings hatte die Einspruchsabteilung den Hauptantrag im Einspruchsverfahren wegen prima facie mangelnder Neuheit des Anspruchs 1 für prima facie unzulässig befunden – nach Auffassung der Kammer zu Unrecht. Sie kam daher zu dem Ergebnis, dass die Einreichung des neuen Hauptantrags bereits in dieser mündlichen Verhandlung absehbar zu einer weiteren Nichtzulassung auf der Grundlage desselben (falschen) Grundes geführt hätte. Folglich hätte der neue Haptantrag nicht bereits im Einspruchsverfahren eingereicht werden müssen.