4.5.4 Zulassung neuer Anträge
In einigen Fällen, in denen die Einwände oder Argumente nicht gänzlich neu waren, sondern bereits im erstinstanzlichen Verfahren oder in Schriftsätzen der Gegenpartei vorgebracht worden waren, haben die Kammern dennoch entschieden, dass eine frühere Einreichung von Anträgen in Antwort darauf nicht erwartet werden konnte.
(i) Antwort auf Einzelaspekt in einer insgesamt nicht überzeugenden Argumentationslinie
In der Ex-parte-Sache T 916/21 stellten die Änderungen in Hilfsantrag 3 eine Reaktion auf eine in der vorläufigen Auffassung der Kammer enthaltene Erläuterung zur Anspruchsauslegung dar. Diese Erläuterung war bereits in der angefochtenen Prüfungsentscheidung enthalten, allerdings als Teil einer in zentralen Punkten nicht überzeugenden Argumentationslinie. Nach ihrer Ansicht konnte es vom Beschwerdeführer nicht erwartet werden, mit Änderungen auf einen einzelnen Aspekt einer insgesamt nicht überzeugenden Argumentationslinie bereits bei Einlegen der Beschwerde zu reagieren. Die Kammer betrachtete daher die Änderungen als eine Reaktion auf die vorläufige Meinung und ließ sie zu, da der Antrag klar den Erfordernissen des EPÜ genügte, so dass die Kammer ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte.
(ii) Einwand früh erhoben, aber von der Prüfungsabteilung nicht weiterverfolgt
In T 922/17 berücksichtigte die Kammer, dass der strittige Einwand zwar von der Prüfungsabteilung bereits in einer früheren Mitteilung erhoben worden war, jedoch weder in der Mitteilung, die der angefochtenen Entscheidung bezüglich des Hauptantrags zugrunde lag, noch in der angefochtenen Entscheidung enthalten war. Die Kammer befand daher, dass im vorliegenden Fall die Tatsache, dass der Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ von der Kammer in ihrer Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK wieder aufgegriffen worden war, als außergewöhnlicher Umstand im Sinne von Art. 13 (2) VOBK betrachtet werden konnte. Zudem war die Wirkung der strittigen Änderungen ohne Weiteres ersichtlich, sodass nach Auffassung der Kammer der Beschwerdeführer die Änderungen mit stichhaltigen Gründen, wie durch Art. 13 (2) VOBK gefordert, gerechtfertigt hatte.
Siehe jedoch auch die folgenden Entscheidungen, in denen die Kammern das Erfordernis der außergewöhnlichen Umstände für Einwände oder Argumente, die bereits von der Prüfungsabteilung vorgebracht worden waren, nicht als erfüllt ansahen: T 2778/17, T 2279/16, T 14/20, T 1080/15, T 597/16 und T 689/15.
(iii) Einwand schon früher erhoben, jedoch nicht substantiiert
In der Sache T 1224/15 hatte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) seinen neuen Hilfsantrag 3 in Reaktion auf einen von der Kammer in ihrer vorläufigen Stellungnahme erhobenen Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ eingereicht. Der Beschwerdegegner (Einsprechende) machte geltend, dass dieser Einwand bereits in seiner Antwort auf die Beschwerdebegründung enthalten sei. Die Kammer stellte jedoch fest, dass der Beschwerdegegner diesbezüglich lediglich auf die Einspruchsschrift verwiesen habe und nicht, wie in Art. 12 (2) VOBK 2007 verlangt, den Argumenten, die der Entscheidung zugrunde lagen, entgegengetreten sei. Dieser Einwand wurde daher nicht berücksichtigt. So betrachtete die Kammer die fragliche Änderung im Hilfsantrag 3 als direkte Reaktion auf die vorläufige Einschätzung der Kammer. Da diese Änderung (Streichung eines abhängigen Anspruchs) zudem keine neuen Einwände hervorrief und keine Änderung der zur Stützung der Gründe der unzureichenden Beschreibung und der fehlenden Neuheit vorgelegten Argumente bewirkte, befand die Kammer diesen neuen Antrag für zulässig (Art. 13 (2) VOBK).
(iv) Einwand der Einspruchsabteilung nicht in der angefochtenen Entscheidung enthalten
In T 1771/17 reichte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) in Reaktion auf den Einwand der Kammer nach Art. 123 (2) EPÜ gegen Hilfsantrag 2A in ihrem Bescheid nach Art. 15 (1) VOBK einen neuen Hilfsantrag 2B ein. Die Kammer betrachtete es als irrelevant, dass die Einspruchsabteilung bereits in ihrer vorläufigen Meinung auf den umstrittenen Anspruchswortlaut hingewiesen hatte, da dies keinen Niederschlag in der angefochtenen Entscheidung gefunden hatte. Auch der Beschwerdeführer hatte diesen Aspekt gegen den mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag 2A nicht angeführt. Daher wurde der Einwand nach Auffassung der Kammer erst durch die Erwähnung im Bescheid der Kammer Bestandteil des Beschwerdeverfahrens, weshalb der Beschwerdegegner keinen Grund gehabt hatte, Hilfsantrag 2B früher einzureichen. Ferner warf Hilfsantrag 2B keine weiteren Probleme auf. Daher wurde er von der Kammer zugelassen.
(v) Reaktion auf Weiterentwicklung eines Arguments
In T 1609/19 hatte der Beschwerdeführer seine Argumente in der mündlichen Verhandlung weiterentwickelt, was sich schließlich für die Entscheidung der Kammer zur Neuheit als ausschlaggebend erwies. Die Kammer unterstrich, dass es daher angemessen erschien, dem Beschwerdegegner Gelegenheit zur Reaktion auf die neue Argumentationslinie zu geben, da er die Richtung nicht hatte vorhersehen können, in die sich die Argumente des Beschwerdeführers entwickeln würden. Entwickelt sich das Argument eines Beteiligten derart weiter, dass es für die Entscheidung der Kammer zu dem entsprechenden Antrag ausschlaggebend wird, ohne aber als Änderung des Vorbringens des betreffenden Beteiligten gewertet zu werden, so ist dies der Kammer zufolge als außergewöhnlicher Umstand zu betrachten, was im vorliegenden Fall die Berücksichtigung von Hilfsantrag 12 rechtfertigte.