4.5.4 Zulassung neuer Anträge
In zahlreichen Entscheidungen haben die Kammern Situationen als außergewöhnliche Umstände gewertet, in denen der Patentinhaber erstmals in der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK, in darauffolgendem Beteiligtenvorbringen oder in der mündlichen Verhandlung mit neuen Einwänden, Argumenten oder Beweismitteln konfrontiert wurde (mit Verweis auf die Erläuterungen zu Art. 13 (2) VOBK, Zusatzpublikation 2, ABl. 2020, 33, s. z. B. T 2461/17, T 1255/18). Die Kammern ließen Anträge zu, die sowohl inhaltlich als auch zeitlich eine gerechtfertigte Reaktion auf diese Umstände darstellten. Teilweise wurde auch die Gesamtsituation einschließlich der legitimen Reaktion auf die neuen Einwände als außergewöhnliche Umstände gewertet (s. Kapitel V.A.4.5.1 zu den unterschiedlichen Auslegungen von Art. 13 (2) VOBK).
Bei dieser Ermessensausübung zogen sie auch die in Art. 13 (1) VOBK und Art. 12 (4) VOBK aufgeführten Ermessenskriterien heran, siehe dazu Kapitel V.A.4.5.4 e) "Kein Freibrief zur Änderung von Ansprüchen nach Belieben – Kriterien aus den Artikeln 13 (1) und 12 (4) VOBK".
(i) Beispiele aus Ex-parte-Verfahren
In T 1255/18 beispielsweise stellte die Kammer fest, dass, wie aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers (Anmelders) ersichtlich, die Einreichung der betroffenen Hilfsanträge nicht nur eine gerechtfertigte, sondern auch eine fristgerechte Erwiderung auf den zusätzlichen Einwand nach Art. 76 (1) EPÜ darstellte, der von der Kammer in der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK erhoben wurde. Die in diese Hilfsanträge aufgenommene Änderung sei nicht über die Änderung des Merkmals hinausgegangen, dessen Vorhandensein in den höherrangigen Anträgen von der Kammer neu beanstandet worden war. Die Kammer bejahte außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 13 (2) VOBK, wodurch die Berücksichtigung der neu eingereichten Hilfsanträge gerechtfertigt war.
Im Verfahren T 2351/17 berücksichtigte die Kammer für die Feststellung außergewöhnlicher Umstände sowohl, dass sie in ihrer vorläufigen Auffassung einen neuen Einwand gemäß Art. 123 (2) EPÜ erhoben hatte, als auch dass die durchgeführten Änderungen als Ziel hatten, diesen Einwand zu überwinden und zu keinen neuen Einwänden führten.
Für weitere Ex-parte-Fälle, bei denen die Kammer erstmals in ihrer vorläufigen Einschätzung oder der mündlichen Verhandlung einen Einwand oder ein Argument vorgebracht hatte und dies (teilweise zusammen mit der Tatsache, dass die Reaktion auf diesen Einwand angemessen war) als außergewöhnliche Umstände betrachtete, siehe z. B. T 1870/15 (Hilfsanträge mit dem Ziel, neuen Klarheitseinwand auszuräumen), T 2461/16 (neuer Klarheitseinwand in der vorläufigen Einschätzung als außergewöhnlicher Umstand, der die Einreichung neuer Anträge zur Behebung dieses Einwands rechtfertigte), T 2429/17 (Hauptantrag zur Behebung neu aufgebrachter Einwände nach Art. 84 EPÜ und Art. 123 (2) EPÜ), T 1166/18 (gerechtfertigte Reaktion auf Einwände nach Art. 84 EPÜ und Art. 123 (2) EPÜ), T 1768/20 (Hauptantrag und Hilfsanträge als gerechtfertigte Verteidigung gegen neue Argumentationslinie zur erfinderischen Tätigkeit zugelassen).
(ii) Gegenbeispiele aus Ex-parte-Verfahren
Ein Gegenbeispiel, in dem eine Kammer Anträge als Reaktion auf erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Einwände bzw. Argumente nicht zuließ, ist T 2214/15 (zusammengefasst in Kapitel V.A.4.5.4 i) "Wiederholte Versuche der Behebung von Mängeln"). Das Benennen von Problemen, die beim Versuch des Beschwerdeführers entstanden sind, die im Verfahren bis zu diesem Punkt erörterten Einwände auszuräumen, sei als normaler Verlauf der Diskussion zu betrachten.
In T 1869/18 betonte die Kammer, dass zwar das erstmalige Erheben von Einwänden durch die Kammer in einem Bescheid nach Art. 15 (1) VOBK als Ursache außergewöhnlicher Umstände betrachtet werden und eventuell das Einreichen von Änderungen rechtfertigen kann, die spezifisch auf die neuen Einwände eingehen. Dies dürfe jedoch nicht zusätzlichen Änderungen, die nicht durch die neuen Einwände bedingt sind, die Tür öffnen. Siehe ähnlich T 1190/17.
(iii) Beispiele aus Inter-partes-Verfahren
In T 1756/16 erhob die Kammer in ihrer Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK ex officio erstmals einen Klarheitseinwand gegen den mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrag 1. Diesen Einwand behob der Beschwerdegegner (Patentinhaber) mit dem während der mündlichen Verhandlung eingereichten "neuen Hilfsantrag 1", der lediglich eine geringfügige Änderung enthielt (Tiefstellung der Indizes der Intensitätsmerkmale "I44" und "I45"). Nach Auffassung der Kammer stellte der von ihr erhobene Einwand außergewöhnliche Umstände dar, die die Einreichung des Hilfsantrags zu diesem Zeitpunkt rechtfertigten.
In T 1482/17 ließ die Kammer die im Laufe der mündlichen Verhandlung eingereichten Anträge zu. Im Hinblick auf das Erfordernis der Rechtfertigung durch außergewöhnliche Umstände bemerkte die Kammer, dass die Hinzufügung eines weiteren präzisierenden Merkmals eine direkte Reaktion auf eine neue Argumentationslinie gewesen sei, die die Kammer von Amts wegen zum ersten Mal während der mündlichen Verhandlung vorgebracht hatte. Mit dieser neuen Argumentation wich sie von ihrer vorläufigen Meinung ab, wonach der frühere Hilfsantrag 1 gewährbar war, was auch implizierte, dass die anderen Hilfsanträge kaum Aussichten hatten, gewährbar zu sein. In Anbetracht dieser Ausnahmesituation war die Kammer der Ansicht, dass der Patentinhaber selbst in diesem späten Stadium des Verfahrens Anspruch auf eine Gelegenheit hatte, die neu aufgeworfenen Einwände zu überwinden. Darüber hinaus stellten die Änderungen eine Weiterentwicklung des Kerngedankens der Erfindung dar. Sowohl die Änderungen als auch der sich daraus ergebende Gegenstand waren nach Auffassung der Kammer technisch unkompliziert und führten nicht zu unerwarteten Kombinationen. Der Beschwerdeführer (Einsprechende 2) sei durch die neuen Hilfsanträge auch nicht benachteiligt worden, da sowohl der nächstliegende Stand der Technik als auch der erfinderische Beitrag der Erfindung im Wesentlichen unverändert geblieben seien.
Ein weiteres Beispiel ist T 135/17, wo das Einreichen des zweiten Hilfsantrags in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer nicht als "fresh case" gewertet wurde und als angemessene Reaktion auf einen Neuheitseinwand betrachtet werden konnte, der in der mündlichen Verhandlung gegen den unabhängigen Verfahrensanspruch des ersten Hilfsantrags erhoben worden war. Zudem machte er weder den Gegenstand noch das Verfahren komplexer und die Gegenseite erhob keine Einwände.
Weitere Beispiele für Inter-partes-Fälle, in denen der Patentinhaber sich mit einem in der vorläufigen Einschätzung der Kammer oder in der mündlichen Verhandlung erhobenen, neuen Einwand oder Argument konfrontiert sah und die Kammer den neuen Antrag unter Berücksichtigung weiterer Aspekte als gerechtfertigte Reaktion zuließ, finden sich in T 1152/17, T 2091/18, T 655/19, T 935/19, T 953/20, T 974/20, T 1489/20, T 623/23. Siehe auch T 32/16 (wo die Kammer die besonderen Umstände des vorliegenden Falls betonte, in dem sich erstmals in der Mitteilung der Kammer herauskristallisiert hatte, was die Kammer selbst den ausschweifenden Argumenten des Beschwerdeführers zu dessen Einwänden nach Art. 100 c) EPÜ als relevante Elemente entnommen hatte); siehe jedoch auch T 1362/21, wo die Kammer in ihrem Fall Unterschiede zu T 32/16 sah. Siehe auch Kapitel V.A.4.5.4 e) "Kein Freibrief zur Änderung von Ansprüchen nach Belieben – Kriterien aus den Artikeln 13 (1) und 12 (4) VOBK".
(iv) Gegenbeispiele aus Inter-partes-Verfahren
Die Kammer in T 2632/18 erklärte (unter Verweis auf T 2271/18), dass allein die Tatsache, dass die Kammer einen "neuen" Einwand erhebt, nicht per se "außergewöhnliche Umstände" im Sinne von Art. 13 (2) VOBK darstellen kann. Nichts anderes lasse sich aus den vom Beschwerdeführer zitierten Entscheidungen ableiten (T 1482/17 und T 1278/18). In beiden Fällen wurde der Aspekt der "neuen Einwände" als nur eines von mehreren Kriterien berücksichtigt, darunter die Komplexität oder die eindeutige Gewährbarkeit der vorgenommenen Änderungen (s. auch Kapitel V.A.4.5.4 e) "Kein Freibrief zur Änderung von Ansprüchen nach Belieben – Kriterien aus den Artikeln 13 (1) und 12 (4) VOBK"). Im vorliegenden Fall war kein neuer Einwand erhoben worden.
In T 2352/19 befand die Kammer, dass außergewöhnliche Umstände nur dann die Zulassung eines neuen, in Reaktion auf einen neuen, durch die Kammer vorgebrachten Aspekt eingereichten Antrags rechtfertigen können, wenn dieser Aspekt letztlich relevant für die endgültige Entscheidung der Kammer ist. Anderenfalls wird das Recht auf rechtliches Gehör der Beteiligten nicht beeinträchtigt und gibt es keinen Grund, Ausnahmen zu gewähren.