1.3. Beschwerdekammern als rechtsprechende Organe
1.3.2 Beschwerdekammern als Gerichte oder gerichtsähnliche Einrichtungen nach der nationalen Rechtsprechung
In J 3/95 date: 1997-02-28 (ABl. 1997, 493) wies die Juristische Beschwerdekammer darauf hin, dass sich mit dem Status der Beschwerdekammern auch der High Court of Justice (Patents Court) im Vereinigten Königreich in der Sache The Queen./.The Comptroller of Patents, Designs and Trade Marks ex parte Lenzing AG befasst hat. Der High Court hat festgehalten, dass "die abschließende Entscheidung über einen Widerruf nach dem neuen Rechtssystem [des EPÜ] bei der Beschwerdekammer des EPA liegt". Zudem stellte er Folgendes klar: "Das Vereinigte Königreich und die anderen Vertragsstaaten haben auf internationaler Ebene mit der Schaffung des EPÜ vereinbart, dass die Beschwerdekammer abschließend über Einsprüche entscheidet. Sie stellt im Rahmen des EPA das Gegenstück zum House of Lords (jetzt Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs), zur Cour de Cassation oder zum Bundesgerichtshof dar ... Wer beim EPA um ein Patent nachsucht, muss das Ergebnis seiner Entscheidungen und Verfahrensvorschriften akzeptieren." In J 3/95 wurden die Beschwerdekammern auch als besonderes, die Rechtsprechung im Sinne des Art. 32 TRIPS ausübendes Gericht anerkannt (s. ABl. 1997, 493, Nr. 6.3 der Gründe; s. auch dieses Kapitel VII.1.3.4).
In R 1/10 bekräftigte die Große Beschwerdekammer die rechtsstaatliche Verfasstheit der Beschwerdekammern des EPA und insbesondere ihre richterliche Unabhängigkeit. Sie verwies darauf, dass mehrere hohe nationale Gerichte der Vertragsstaaten des EPÜ (insbesondere das Patentgericht des Vereinigten Königreichs, der deutsche Bundesgerichtshof und das deutsche Bundesverfassungsgericht) die Beschwerdekammern als unabhängige Gerichte im rechtsstaatlichen Sinne bezeichnet (s. auch R 19/12 vom 25. April 2014 date: 2014-04-25) und deren Entscheidungen als Entscheidungen eines unabhängigen Gerichts anerkannt haben, die sie bei der Entwicklung ihrer Rechtsprechung berücksichtigten.
Im Ex-parte-Verfahren T 1473/13 begründete der Beschwerdeführer seinen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens mit der Anhängigkeit mehrerer Verfassungsbeschwerden vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG) (s. 2 BvR 2480/10, 2 BvR 421/13, 2 BvR 756/16, 2 BvR 786/15), die sich auf den Vorwurf eines "unzureichenden Rechtsschutzes beim EPA gegen Entscheidungen der Beschwerdekammern" stützten. Da die Kammer ihrer Auffassung nach nicht befugt war festzustellen, dass diese eindeutig unzulässig oder unbegründet waren, prüfte sie, ob eine Ablehnung der Verfahrensaussetzung negative Folgen haben könnte.
Sie stellte zunächst fest, dass die Entscheidungen der Beschwerdekammern des EPA grundsätzlich der Überprüfung durch das BVerfG unterliegen, es aber bisher keine Rechtsprechung gab, wonach eine Entscheidung des EPA gegen das deutsche Grundgesetz verstieße.
Sie befand, dass der Beschwerdeführer nicht nachgewiesen hatte, dass ihm bei einem Erfolg der Verfassungsbeschwerden ein rechtlicher Nachteil aus einer Nichtaussetzung entstünde. Sie merkte auch an, dass es, wenn andere Kammern denselben Ansatz verfolgten, außerdem sein könnte, dass die Rechtspflege durch die Kammern stark beeinträchtigt werde. Der Antrag auf Aussetzung wurde daher zurückgewiesen. Bezüglich der Funktion der Kammern verwies die Kammer auf Beispiele dafür, dass Entscheidungen der Beschwerdekammern auch in anderen Rechtskreisen als der EPO als Verwaltungsentscheidungen galten bzw. gelten.
Mit Beschluss vom 8. November 2022 verwarf das BVerfG die Verfassungsbeschwerden 2 BvR 2480/10, 2 BvR 421/13, 2 BvR 756/16, 2 BvR 786/15 und 2 BvR 561/18. Die Beschwerdeführer hätten nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass das geforderte Mindestmaß an wirkungsvollem Rechtsschutz durch die Organisation des Rechtsprechungssystems im EPA verfehlt würde. Soweit sie die institutionelle Stellung der Technischen Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer innerhalb des Rechtsschutzsystems der Europäischen Patentorganisation und die damit verbundenen Defizite hinsichtlich der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit ihrer Mitglieder rügten, erschiene es zwar nicht ausgeschlossen, dass diese bis zur Strukturreform von 2016 nicht gewährleistet waren. Diese Defizite seien mit der Strukturreform des Jahres 2016, mit der eine Entflechtung der Verwaltungs- und Rechtsprechungsaufgaben vorgenommen und die Rechtsprechungsfunktion der Beschwerdekammern institutionell weitgehend verselbstständigt worden seien, jedoch weitgehend behoben worden.