3. Klarheit der Ansprüche
3.2. Relative Eigenschaften und vage formulierte Ansprüche
In der Grundsatzentscheidung T 728/98 (ABl. 2001, 319) stellte die Kammer fest, dass aus dem Erfordernis der Rechtssicherheit folgt, dass ein Anspruch nicht als deutlich im Sinne von Art. 84 EPÜ 1973 angesehen werden kann, wenn er ein unklares technisches Merkmal enthält (hier: "im Wesentlichen rein"), für das es auf dem betreffenden Fachgebiet keine eindeutige allgemein anerkannte Bedeutung gibt. Dies gelte umso mehr, als das unklare Merkmal für die Abgrenzung des beanspruchten Gegenstands gegenüber dem Stand der Technik wesentlich sei (s. auch T 1399/11, T 1702/15). Nach Auffassung der Kammer in T 869/20 wurde in T 728/98 nicht geschlossen, dass die Prüfung der Klarheit nur zu erfolgen habe, wenn das unklare Merkmal das einzige Unterscheidungsmerkmal sei, sondern einfach betont wurde, dass in einem solchen Fall das Erfordernis der Klarheit besonders wichtig zur Wahrung der Rechtssicherheit sei.
Ebenso befand die Kammer in T 226/98 (ABl. 2002, 498), dass das Merkmal "als ein Arzneimittel" zur Definition eines pharmazeutischen Reinheitsstandards in einem Anspruch auf ein Erzeugnis als solches (hier: Famotidin Form B) diesen Anspruch unklar machte, weil keine allgemein anerkannte quantitative Definition für den angeblichen Reinheitsstandard vorlag. Verneint wurde die Deutlichkeit der betreffenden relativen Begriffe auch in T 174/02 ("kurz"), T 1640/11 ("Wert"), T 842/14 ("akkurat"), T 1963/17 ("im Wesentlichen simultan") T 362/17 ("kurze [Geschichte des gesprochenen Worts]"), T 1903/19 ("geringe Intensität"), T 1152/21 ("geeignete Temperatur", "ungefähr 70°C", "ungefähr 3 Stunden").
In T 1469/20 befand die Kammer, dass die Begriffe "kostengünstig", "schnell", "große Vielfalt" und "angenehme Assoziation" in Anspruch 1 nicht klar waren. Die Tatsache, dass der Anspruch im Wesentlichen ausgelegt werden konnte, indem man die relativen und subjektiven Begriffe – die nicht eindeutig beschränkend waren – außer Acht ließ, bedeutete nicht, dass der Anspruch in der vorgelegten Form gewährt werden konnte. Wie die Kammer ausführte, ist Klarheit ein von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit getrenntes Erfordernis, und würde man den Verbleib unklarer Begriffe im Anspruch zulassen, so wäre die Bestimmung des Schutzumfangs für den Leser über Gebühr erschwert. Der Umstand, dass "kostengünstig" und "angenehme Assoziation" nichttechnische Konzepte waren, die als solche für die erfinderische Tätigkeit nicht zählten, war für die Frage der Klarheit ohne Belang.
In T 586/97 war der Hauptanspruch auf eine Aerosolzusammensetzung gerichtet, die ein Treibgas und einen nicht definierten Wirkstoff umfasste. In dem Fall, dass ein wesentlicher Bestandteil einer chemischen Zusammensetzung willkürlich als "Wirkstoff" bezeichnet werden kann oder nicht, variiert nach Auffassung der Kammer die Bedeutung dieses Merkmals. Wird die Öffentlichkeit darüber im Zweifel gelassen, wie zwischen unter diesen Anspruch fallenden und nicht darunter fallenden Zusammensetzungen unterschieden werden soll, so widerspricht dies dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Daher erfüllte der streitige Anspruch die nach Art. 84 EPÜ 1973 vorgeschriebenen Klarheitserfordernisse nicht. S. auch T 642/05, T 134/10.
In den Entscheidungen T 1129/97 (ABl. 2001, 273) und T 274/98 betonte die Kammer, dass das Erfordernis der Deutlichkeit nur dann erfüllt ist, wenn die beanspruchte Gruppe von chemischen Verbindungen/von anspruchsgemäßen Bestandteilen so definiert ist, dass die Fachperson die zu dieser Gruppe gehörenden Verbindungen/Bestandteile zweifelsfrei von denen unterscheiden kann, die ihr nicht zugehören (s. auch T 425/98 zur Formulierung "umfassend eine größere Menge").
In T 268/13 befand die Kammer, dass der Anspruch auf ein "Verfahren zur Herstellung eines [...] Dekorbandes mit [...] Struktur aus Text oder graphischem Symbol [...]" den Erfordernissen des Art. 84 EPÜ 1973 genügt. Zwar ließ sich nicht ganz allgemein und universell feststellen, was ein Symbol darstellt, aber im vorliegenden Fall war dennoch klar, ob ein bestimmtes Zeichen im gegebenen kulturellen, linguistischen oder technischen Kontext ein Symbol ist. Der Anspruch stellte also weder die Person, die eine Patentverletzung vermeiden will, noch den Verletzungsrichter vor unlösbare Aufgaben.
In T 1845/11 kam die Kammer zum Schluss, dass der Begriff "asiatische Rasse" unklar sei. Der Fachperson lägen keine klar definierten objektiven Kriterien für eine Einteilung von Patienten in Rassengruppen vor.
In T 860/93 (ABl. 1995, 47) äußerte sich die Kammer folgendermaßen: Wird eine Eigenschaft in einem Anspruch als innerhalb eines bestimmten Zahlenbereichs liegend angegeben, so muss das Verfahren zur Bestimmung dieser Eigenschaft entweder allgemeines Fachwissen sein, sodass keine ausdrückliche Beschreibung erforderlich ist, oder es muss ein Verfahren zur Bestimmung dieser Eigenschaft angegeben werden (im Anschluss an T 124/85). Ist in einem Anspruch dagegen eine relative Eigenschaft angegeben – im vorliegenden Fall die Wasserlöslichkeit der Erzeugnisse – so kann die Angabe eines Verfahrens zu deren Bestimmung in der Regel entfallen (zum Begriff "löslich" s. auch T 785/92, T 939/98, T 125/15). In T 860/95 ("über einen langen Zeitraum"), T 649/97 ("transparent"), T 1041/98 ("dünne Platte"), T 193/01 ("dünner Film"), T 545/01 ("flach"), T 378/02 ("glatt"), T 2367/16 ("über Nacht") und T 2402/17 (Relation zwischen den Begriffen "höhere" und "geringere Schwingungsanfälligkeit" und "kleinere Werte") bestätigten die Kammern, dass die Verwendung eines relativen Begriffs in einem Anspruch zugelassen werden kann, wenn sich der Fachperson die Bedeutung dieses Begriffs in einem bestimmten Kontext erschließt. In T 1045/92 betrafen die Ansprüche eine "härtbare Zweikomponentenzusammensetzung, enthaltend [...]". Die Kammer war der Ansicht, eine "härtbare Zweikomponentenzusammensetzung" sei einer Polymerfachperson als Handelserzeugnis ebenso geläufig wie ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs der breiten Öffentlichkeit. Daher sei der Anspruch durchaus klar.
In T 1170/16 entschied die Kammer, dass "für … nützlich" in der Formulierung "für absorbierende Artikel nützliche flüssigkeitsabsorbierende Struktur" in Anspruch 1 zu einem Klarheitsmangel führt. "für … nützlich" implizierte einen gewissen Wert der durch diese Formulierung verbundenen Merkmale füreinander. Dieser Wert oder Vorteil war in Anspruch 1 nicht definiert, sodass der Leser darüber im Dunkeln gelassen wurde, inwiefern die Struktur für die absorbierenden Artikel nützlich war. Die Kammer akzeptierte nicht, dass "für … nützlich" gleichbedeutend mit "für" im Sinne von "geeignet für" war. Vielmehr beschreibe es eine über die Eignung hinausgehende Wirkung. In T 1526/22 hat die Prüfungsabteilung die im Anspruch verwendete Formulierung [Vorrichtung] "für ein Fahrerassistenzsystem für ein Ego-Fahrzeug" beanstandet, da sie nahelege, dass eine das Fahrerassistenzsystem unterstützende Wirkung erzeugt werden solle, was jedoch aus dem Wortlaut des Anspruchs nicht hervorgehe. Die Kammer legte die Formulierung von Anspruch 1 so aus, dass damit eine Vorrichtung gemeint ist, die für ein Fahrerassistenzsystem für ein Ego-Fahrzeug geeignet ist, wie es für ein Zweckmerkmal in einem Vorrichtungsanspruch mit dem sprachlichen Ausdruck "Vorrichtung für…" üblich ist. Anspruch 1 erfordert nicht, dass die beanspruchte Vorrichtung so konfiguriert sein muss, dass sie die Ausgabedaten des Zustandschätzers als Eingabedaten für ein Fahrerassistenzsystem bereitstellt. Die Kammer sah diesbezüglich keine Unklarheit.
In T 651/05 stellte die Kammer fest, dass die Aufnahme von ungenauen Begriffen zu mangelnder Klarheit geführt hatte, da sie unterschiedliche, aber gleichermaßen gültige Auslegungen zuließen (s. auch T 621/03, T 127/04). In T 1534/10 enthielt ein Anspruch das Merkmal, "dass der Datenträger (1) mehrschichtig als Laminat aufgebaut ist und mindestens zwei Folien (4, 5) enthält, welche als Deckfolie (4) oder als Kernfolie (5) in den Schichtaufbau des laminierten Datenträgers integriert sind". Nach Ansicht der Kammer warf dieser Wortlaut durch die Vermischung von Plural ("mindestens zwei Folien (4, 5)") und Singular ("als Deckfolie (4) oder als Kernfolie (5)") eine Unklarheit hervor, da nicht ersichtlich sei, ob die mindestens zwei Folien jeweils als Deckfolie oder Kernfolie ausgebildet sind, oder ob sie zusammen eine neue Folie ergeben, die dann als Deckfolie oder Kernfolie ausgebildet ist.
Ist bei einer von mehreren Auslegungsmöglichkeiten eines vage formulierten Anspruchs ein Teil des beanspruchten Gegenstandes nicht ausreichend genug beschrieben, dass er ausgeführt werden könnte, so kann dieser Anspruch nach Art. 100 b) EPÜ 1973 beanstandet werden (T 1404/05, ebenfalls unter Kapitel II.C.8.1. "Artikel 83 EPÜ und Stützung durch die Beschreibung").
In T 1065/18 befand die Kammer, dass der Anspruch aufgrund seines Wortlauts "Pharmazeutische Zusammensetzung … in einem Behältnis verpackt oder abgefüllt" die pharmazeutische Zusammensetzung statt ein diese Zusammensetzung beinhaltendes Behältnis in den Vordergrund stelle. Dadurch sei unklar, ob der begehrte Schutz auf die pharmazeutische Zusammensetzung für sich genommen beschränkt sei oder ob ein eine Zusammensetzung beinhaltendes Behältnis geschützt werden solle (für einen ähnlichen Fall s. T 352/04 ). Somit läge hier mangelnde Klarheit vor.
- T 2387/22
In T 2387/22 claim 1 according to auxiliary requests 9 to 11 defined the use of a Vacuum Metallised Pigment (VMP) in a flexographic ink formulation for providing the following technical effects: "fewer print defects, higher hiding and stronger colour and allowing a lower volume anilox". The respondent (patent proprietor) submitted that according to G 2/88, when a use claim defined technical purposes or effects, these were to be interpreted as functional features restricting the scope of protection.
According to the appellant (opponent) these functional features did not meet the requirement of clarity under Art. 84 EPC, since they were defined using relative terms as well as diffusely defined concepts. The respondent replied that it was a well-established practice of the boards to allow the definition of effects or purposes in non-medical use claims using broad and/or relative terms.
The board observed that there was no basis – be it in the case law or in the EPC – for concluding that the limiting functional features of a use claim are exempt from the clarity requirement under Art. 84 EPC or somehow exposed to lower standards in this respect. It however emphasised that – irrespective of whether a claim was directed to a use or to any other category of subject-matter – the mere breadth of protection did not in itself imply a lack of clarity. The decisive consideration was whether the feature(s) in question gave(s) rise, or could plausibly give rise, to legal uncertainty when assessing whether a particular subject-matter falls within or outside the scope of protection conferred by the claim.
Moreover, the board stated that, where the invention was based on the discovery of a new technical effect of a known entity (as in G 2/88 and G 6/88), it was generally accepted in practice to define that effect in correspondingly broad terms, provided the effect was sufficiently distinct to clearly delimit the scope of protection with respect to the prior art. The situation in the present case was, however, fundamentally different. The use claim did not seek to define distinct technical effects, but rather relative improvements in the achievement of such effects..
The board held that where a claimed invention is defined by the use of a known entity to achieve a known technical effect or purpose, and the alleged technical contribution lies in a relative improvement or enhancement of that effect or purpose, the requirement of clarity under Art. 84 EPC generally demands that the feature defining such relative improvement or enhancement be expressed in objectively verifiable terms, thereby ensuring legal certainty regarding the scope of protection. In these "relative-improvement" scenarios, any imprecise functional language could blur the distinction between claimed and known uses, giving rise to the very legal uncertainty that the clarity requirement is intended to prevent.
In the present case, the board concluded that no objective criteria were available for determining when the number of print defects, the degree of hiding, the colour intensity or the anilox volume could be regarded as sufficiently low or high for other uses to fall within or outside the scope of the claim. As a result, the subject-matter of claim 1 could not be assessed objectively in relation to the prior art, which gave rise to legal uncertainty and therefore failed to meet the clarity requirement of Art. 84 EPC.