3. Klarheit der Ansprüche
3.3. Angabe aller wesentlichen Merkmale
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist Art. 84 EPÜ (der durch das EPÜ 2000 inhaltlich nicht geändert wurde) dahin gehend zu verstehen, dass ein Anspruch nicht nur technisch gesehen verständlich sein, sondern auch den Gegenstand der Erfindung eindeutig kennzeichnen, d. h. alle seine wesentlichen Merkmale angeben muss. Ein unabhängiger Anspruch sollte alle zur Festlegung der Erfindung wesentlichen Merkmale ausdrücklich nennen (G 1/04, ABl. 2006, 334). Dies sind alle Merkmale, die zur Lösung der technischen Aufgabe, um die es in der Anmeldung geht, erforderlich sind; s. hierzu T 32/82, ABl. 1984, 354 und T 115/83, bestätigt u. a. durch T 269/87; T 622/90; T 409/91, ABl. 1994, 653; T 694/92, ABl. 1997, 408; T 1055/92, ABl. 1995, 214; T 61/94; T 488/96; T 203/98; T 260/01; T 813/03; T 1540/12; T 2427/13; T 1180/14; T 30/16; T 2291/15; T 874/16 und T 110/21. Dabei wurde die Angabe aller wesentlichen Merkmale teilweise als eine Voraussetzung des Deutlichkeitserfordernisses.
In T 1957/14 war die Kammer nicht überzeugt von der Argumentation des Beschwerdeführers, dass hinterlegtes Material die Beschreibung einer Sequenz ersetzen, d. h. als Alternative zu strukturellen Informationen dienen könne. Die Definition der wesentlichen Erfindungsmerkmale durch eine hinterlegte Inzuchtlinie, die erst analysiert werden müsste, um die relevanten Allele zu identifizieren, widersprach nach Auffassung der Kammer dem Prinzip, wonach die Bedeutung eines Anspruchs, einschließlich seiner wesentlichen Merkmale, für die Fachperson grundsätzlich aus dem Wortlaut des Anspruchs allein klar hervorgehen sollte.
Zu den wesentlichen Merkmalen gehören insbesondere diejenigen Merkmale, durch die sich die Erfindung vom Stand der Technik unterscheidet (T 1055/92, T 813/03). Zur Abgrenzung von wesentlichen und unwesentlichen Merkmalen, s. ferner T 61/94, T 203/98, T 141/00, T 260/01, T 1573/12, T 2131/12 und T 21/16.
Ob ein nach dem Ausdruck "insbesondere" stehendes Merkmal als fakultativ anzusehen ist, hängt vom jeweiligen Kontext ab (T 260/10). In T 2035/16 hielt die Kammer fest, dass es für "insbesondere" zwei verschiedene Auslegungen gäbe: im Sinne von "zum Beispiel" wie in T 1882/12 oder im Sinne von "speziell" bzw. "vor allem" wie in T 260/10. Durch diese Mehrdeutigkeit von "insbesondere" lag für den Einsprechenden mangelnde Klarheit vor. Die Kammer berücksichtigte jedoch die Beschreibung und kam zu dem Schluss, dass es sich bei der Formulierung "insbesondere Nah-Infrarotstrahlung" in Anspruch 1 eindeutig um ein fakultatives und nicht um ein wesentliches Merkmal handele, sodass der Anspruch somit eindeutig sei.
Nach Auffassung der Kammer in T 888/07 ist ein Merkmal als wesentliches Merkmal der Erfindung anzusehen, wenn aus dem Wortlaut eines unabhängigen Anspruchs geschlossen werden muss, dass eine Lösung der erfindungsgemäßen Aufgabe dadurch bewirkt wird, dass ein Schritt nicht benötigt wird, während eben dieses Merkmal der Beschreibung zufolge nicht weggelassen werden kann, sondern für eine ausführbare Lösung notwendig ist. Ein unabhängiger Anspruch, in dem dieses Merkmal fehlt, ist daher weder klar noch durch die Beschreibung gestützt. S. auch dieses Kapitel II.A.5.
In T 809/12 gelangte die Kammer zu folgender Feststellung: Wenn ein unabhängiger Anspruch ein durch das zu erreichende Ergebnis definiertes Merkmal enthält und dieses Ergebnis im Wesentlichen der anmeldungsgemäßen Aufgabe entspricht, müssen die übrigen Merkmale des Anspruchs, um die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ 1973 zu erfüllen, alle wesentlichen Merkmale umfassen, die zur Erreichung dieses Ergebnisses notwendig sind. S. auch T 2427/13 und T 1034/20.
In T 818/03 war die Kammer der Auffassung, dass ein Verfahrensanspruch, der die Schritte zur Erzielung eines bestimmten Ergebnisses nicht hinreichend klar angibt, dennoch als klar angesehen werden kann, wenn das zu erzielende Ergebnis klar definiert wird. Ein Anspruch, der ein Verfahren zur Erzielung eines nicht ganz klar definierten Ergebnisses angibt, kann ebenfalls noch als klar angesehen werden, wenn die zur Erzielung dieses Ergebnisses notwendigen Schritte hinreichend klar dargelegt werden. Einem Anspruch mangele es jedoch an Klarheit, wenn er wie vorliegend sowohl die notwendigen Verfahrensparameter als auch die relevanten charakteristischen Merkmale des Ergebnisses nicht klar genug darlege.
Entstehen laut T 2001/12 Zweifel daran, dass die beanspruchte Erfindung die in der Anmeldung definierte Aufgabe lösen kann, weil die Merkmale, die gemäß der Anmeldung die Lösung der Aufgabe bewirken, im Anspruch nicht beschrieben sind, so stimmen die Beschreibung und die Ansprüche in Bezug auf die Definition der Erfindung nicht überein, und es wäre ein Einwand gemäß Art. 84 EPÜ 1973 zu erheben, dass die Ansprüche nicht alle wesentlichen Merkmale der Erfindung enthalten, die zur Beschreibung der Erfindung erforderlich sind (s. auch Kapitel II.C.6. "Ausführbarkeit"). S. auch T 1180/14.
In T 1055/92 stellte die Kammer fest, dass die wichtigste Funktion eines Patentanspruchs darin bestehe, den für die Erfindung begehrten Schutzumfang festzulegen; es sei daher nicht immer notwendig, dass in einem Anspruch die technischen Merkmale oder Schritte in allen Einzelheiten beschrieben würden. Diese Funktion der Ansprüche sollte von dem Erfordernis streng getrennt werden, dass die europäische Patentanmeldung die Erfindung so offenbaren muss, dass eine Fachperson sie ausführen kann. Nach Art. 83 EPÜ 1973 müsse die europäische Patentanmeldung als Ganzes und nicht ein einzelner Anspruch als solcher eine ausreichende Offenbarung enthalten. Ein Anspruch müsse die wesentlichen Merkmale der Erfindung angeben. Dazu gehörten insbesondere jene Merkmale, welche die Erfindung vom nächstliegenden Stand der Technik unterschieden. S. auch T 61/94.
In G 1/04 (ABl. 2006, 334) ging es um Diagnostizierverfahren. Die Große Beschwerde-kammer stellte fest, dass ein Diagnostizierverfahren im Sinne von Art. 52 (4) EPÜ 1973 naturgemäß und notwendigerweise mehrere Schritte umfasst. Ist die Diagnosestellung als deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase eine rein gedankliche Tätigkeit, so stellen zum einen das Merkmal, das die zu Heilzwecken erfolgende Diagnose betrifft, und zum anderen die Merkmale der der Stellung der Diagnose vorgeschalteten und für diese grundlegenden Schritte die wesentlichen Merkmale eines Diagnostizierverfahrens im Sinne des Art. 52 (4) EPÜ 1973 dar. Um die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ 1973 zu erfüllen, muss ein unabhängiger Anspruch, der sich auf ein solches Diagnostizierverfahren bezieht, daher diese Merkmale einschließen. Obwohl die wesentlichen Merkmale größtenteils technischer Art sind, so muss jedoch ein nichttechnisches Merkmal, das für die Festlegung der Erfindung grundlegend angesehen werden soll, ebenfalls als wesentliches Merkmal in den unabhängigen Anspruch aufgenommen werden. Obwohl also die Stellung der Diagnose an sich eine rein intellektuelle Tätigkeit ist, sofern sie nicht mithilfe einer Apparatur erfolgt, so ist doch das Merkmal, das sich auf sie bezieht, ein derartiges wesentliches Merkmal, das in den unabhängigen Anspruch aufgenommen werden muss. Siehe auch Kapitel I.B.4.6.1 c) "Klarheit eines auf ein Diagnostizierverfahren gerichteten Anspruchs".
G 1/07 (ABl. 2011, 134) betraf chirurgische Verfahren. Die Große Beschwerdekammer verwies auf G 1/04 und erklärte, dass ein Anspruch alle wesentlichen Merkmale ausdrücklich angeben und klar sein muss. Ob ein Schritt, der einen von der Patentierbarkeit ausgeschlossenen chirurgischen Verfahrensschritt darstellt oder umfasst, durch eine positive Formulierung wie "vorher verabreicht" oder durch einfaches Weglassen aus dem Anspruch ausgeklammert werden kann, hängt nach Art. 84 EPÜ davon ab, ob die beanspruchte Erfindung auch ohne diesen Schritt durch die übrigen Anspruchsmerkmale vollständig und umfassend beschrieben ist (s. auch Kapitel I.B.4.4.4 c) "Chirurgischer Schritt als Teil des beanspruchten Verfahrens oder lediglich vorbereitender Schritt?").
In T 2102/12 bezog sich die Anmeldung auf Medizinroboter, mit denen sich bei Bedienung einer Eingabevorrichtung durch einen Chirurgen ein Instrument auf einem Gelenkarm robotergesteuert bewegen lässt. Die Kammer verwies auf G 1/07 und entschied, dass der Anspruch aufgrund der Beanspruchung der Messung der Bewegung des Instruments und der fehlenden Beanspruchung der Bewegung selbst im Sinne von Art. 84 EPÜ nicht deutlich war. Das beanspruchte Verfahren ineinander greifender nichtchirurgischer ("beanspruchter") und chirurgischer ("nicht beanspruchter") Schritte war nicht mit dem T 836/08 zugrunde liegenden Verfahren vergleichbar.
In T 923/08 entschied die Kammer wie folgt: Setzt ein Verfahren, das zum Erfassen von Messwerten am menschlichen oder tierischen Körper vorgesehen ist, zwingend einen chirurgischen Schritt zur Befestigung eines für die Verfahrensdurchführung unverzichtbaren Messelements am menschlichen oder tierischen Körper voraus, ist dieser Schritt als wesentliches Merkmal des Verfahrens anzusehen, das von einem solchen Verfahren umfasst wird, selbst wenn im Anspruch kein Verfahrensmerkmal ausdrücklich auf diesen Schritt gerichtet ist. Ein solches Verfahren ist gemäß Art. 53 (c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen. Das Ausklammern eines solchen chirurgischen Schritts, sei es durch eine Formulierung, wonach das chirurgisch befestigte Messelement bereits vor dem Beginn des Verfahrens am Körper angebracht war oder durch einen Disclaimer verletzt Art. 84 EPÜ 1973, weil ein solcher Verfahrensanspruch dann nicht alle wesentlichen Merkmale der beanspruchten Erfindung enthält.
- T 0602/24
In T 602/24 merkte die Kammer an, dass dem Begriff "wesentliche Merkmale" in der Rechtsprechung keine einheitliche Bedeutung beigemessen wird. Dies liege nicht nur an der Anwendung unterschiedlicher Rechtsgrundlagen für ein solches Erfordernis (Deutlichkeit des Anspruchs oder Stützung durch die Beschreibung), sondern auch an den unterschiedlichen Kriterien, anhand derer das Fehlen "wesentlicher Merkmale" geprüft werde (s. RBK, 10. Aufl. 2022, II.A.3.2., II.A.5.1.). Die Kammer fügte hinzu, dass diese uneinheitliche Handhabung durch die Rechtsprechungsanalyse in T 56/21 im Zusammenhang mit der Frage, ob Art. 84 und R. 43 EPÜ eine Rechtsgrundlage für eine obligatorische Anpassung der Beschreibung an Ansprüche liefern, veranschaulicht wurde.
Die Kammer führte aus, dass in der Rechtsprechung Einigkeit darüber besteht, dass die Prüfung der "wesentlichen Merkmale" angesichts des Erfordernisses, dass die Ansprüche durch die Beschreibung gestützt sein müssen, einen formalen Aspekt beinhaltet, insoweit als zu prüfen ist, ob das, was in den Ansprüchen definiert ist, auch in der Beschreibung zu finden ist. Darüber hinaus würden aber in vielen der im Abschnitt II.A.5.1 der Publikation RBK zitierten Entscheidungen bei der Prüfung dieses Erfordernisses materiellrechtliche Aspekte berücksichtigt. Die Prüfung dieser weiteren Aspekte gehe teilweise auf die Entscheidung T 409/91 zurück (Nr. 2 und 3.5 der Gründe). In diesem Zusammenhang verwies die Kammer desweiteren auf T 939/92 und T 1055/92 sowie auf die Entscheidungen im dritten Absatz des Teils II.A.5.1 der RBK.
Die Kammer stellte fest, dass im vorliegenden Fall die Zurückweisung des Hauptanspruchs durch die Prüfungsabteilung wegen fehlender wesentlicher Merkmale unter Bezugnahme auf Art. 84 EPÜ nicht auf einer fehlenden formalen Stütze des Anspruchs 1 durch die Beschreibung, sondern offensichtlich auf einer unzureichenden Offenbarung seines Gegenstands im Sinne des Art. 83 EPÜ beruhte. Ein solcher Einwand auf der Grundlage von Art. 84 EPÜ sei aber für die Kammer im Lichte des Zwecks der R. 43 EPÜ nicht haltbar. Außerdem sei eine solche Zurückweisung nicht im Einklang mit den "Travaux préparatoires" zum EPÜ 1973 und zum EPÜ 2000, wie aus T 1020/03 und G 3/14 hervorgehe.
Unter Berücksichtigung des Titels der R. 43 EPÜ, wonach diese die Form und den Inhalt der Patentansprüche festlegt, sowie der formalen Anforderungen für Ansprüche in R. 43 (1) bis (2) und (4) bis (7) EPÜ war der Kammer nicht ersichtlich, warum der Wortlaut des ersten Teils der R. 43 (3) EPÜ, wonach die unabhängigen Patentansprüche die wesentlichen Merkmale der Erfindung wiedergeben, im Gegensatz zu allen anderen Bestimmungen der R. 43 EPÜ Erfordernisse definieren sollte, die über die Form und den Inhalt der Ansprüche hinausgehen.
Da außerdem die Patentansprüche nach Art. 84 EPÜ den Gegenstand des Schutzbegehrens definieren ("the matter for which protection is sought"; "l'objet de la demande pour lequel la protection est recherchée"), d.h. den vom Anmelder formulierten Gegenstand, für den ein europäisches Patent beantragt wird, müssen der Kammer zufolge die wesentlichen Merkmale der Erfindung im Sinne von R. 43 (3) EPÜ diejenigen sein, die der Anmelder als wesentlich für den beantragten Patentschutz ansieht, und nicht diejenigen, die die Prüfungsabteilung als ausreichend erachtet, um materiellrechtliche Erfordernisse zu erfüllen.
Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass die Zurückweisung durch die Prüfungsabteilung unter Bezugnahme auf Art. 84 EPÜ mit der Begründung, dass Anspruch 1 nicht alle wesentliche Merkmale in Bezug auf das Erreichen einer Glasübergangstemperatur (Tg) von mehr als 60°C für die vernetzte Zusammensetzung enthielt, nicht überzeugend war.