1.3.9 Anspruchsauslegung bei der Beurteilung der Einhaltung von Artikel 123 (2) EPÜ
Die Kammer stellte in T 1018/02 fest, dass ein Anspruch zwar nicht auf unlogische oder unsinnige Weise ausgelegt werden darf, die Beschreibung aber nicht herangezogen werden kann, um einem Anspruchsmerkmal, das als solches der Fachperson eine klare, glaubhafte technische Lehre vermittelt, eine andere Bedeutung zu verleihen (T 876/19). Dies gilt auch dann, wenn das Merkmal ursprünglich nicht in der Form offenbart war, in der es im Anspruch erscheint (s. auch z. B. T 1195/01, T 474/15). Um Übereinstimmung mit der ursprünglichen Offenbarung zu erreichen, hätte im vorliegenden Fall das fragliche Anspruchsmerkmal gestrichen werden müssen; dies war nach Art. 123 (3) EPÜ 1973 aber nicht möglich. S. auch T 197/10, die (im Kontext der Neuheitsprüfung) den Ansatz bestätigte, dass bei einer Diskrepanz zwischen deutlich definierten Patentansprüchen und der Beschreibung solche Teile der Beschreibung, die in den Patentansprüchen keinen Niederschlag haben, grundsätzlich nicht zu berücksichtigen sind.
In T 30/17 befand die Kammer (bei der Prüfung einer unzulässigen Erweiterung), dass Art. 69 EPÜ und sein Protokoll keine Grundlage für den Ausschluss eines unter den eigentlichen Wortsinn der Ansprüche fallenden Gegenstands bieten, weil sich diese Bestimmungen auf den "Schutzbereich" des Patents (oder der Patentanmeldung) beziehen, der vor allem in Verletzungsverfahren von Bedeutung ist. Die Kammer betonte, dass im Prüfungs- und Einspruchsverfahren die künftige Rechtssicherheit oberste Priorität hat. Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) argumentiert, dass der strittige Ausdruck in Anspruch 1 in der erteilten Fassung sprachlich bedeutungslos sei und die Bedeutung nur unter Berücksichtigung des Anspruchskontexts, der Beschreibung und des allgemeinen Fachwissens ermittelt werden könne. Die Kammer befand jedoch, dass der Ausdruck an sich nicht zweideutig war, und betonte, dass eine (angebliche) Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und der Beschreibung kein triftiger Grund war, um die klare sprachliche Struktur eines Anspruchs zu ignorieren und den Anspruch anders zu interpretieren (s. z. B. T 431/03 und T 197/10), oder einem Anspruchsmerkmal, das als solches der Fachperson eine klare, glaubhafte technische Lehre vermittelt, eine andere Bedeutung zu verleihen (s. z. B. T 1018/02 und T 1395/07). Siehe jedoch auch T 195/20 (in dieser Entscheidung betont die Kammer, dass die Fachperson sich nicht darauf beschränken würde, die semantische Rolle von Wörtern in einem Satz zu bestimmen).
Die Kammer in T 821/20 verwies auf die Schlussfolgerung aus T 169/20, der zufolge es, wenn der Wortlaut des Anspruchs im zugrunde liegenden technischen Kontext klar ist und technisch Sinn macht, nicht gerechtfertigt ist, die Beschreibung heranzuziehen, um den Schutzumfang durch Ausklammerung von Auslegungsmöglichkeiten einzuschränken, die im technischen Kontext des Patents sowohl vertretbar als auch technisch sinnvoll sind. Dies würde bedeuten, dass der Patentinhaber für eine mehrdeutige Abfassung der Ansprüche belohnt wird, indem er die Möglichkeit erhält, sich auf die Beschreibung zu stützen, um den Anspruchsgegenstand nach Belieben einzuschränken, anstatt ihn klarzustellen. Siehe auch T 566/20.