1.3.9 Anspruchsauslegung bei der Beurteilung der Einhaltung von Artikel 123 (2) EPÜ
Dieses Kapitel bietet einen Überblick über neuere Entscheidungen, in denen die Kammern die Rolle der Beschreibung und der Zeichnungen bei der Auslegung zweideutiger Merkmale insbesondere bei der Beurteilung der Einhaltung des Art. 123 (2) EPÜ behandelt haben. Für einen allgemeinen Überblick einschließlich Erwägungen zur Rechtsgrundlage s. Kapitel II.A.6.3. "Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche".
In T 23/02 stellte die Kammer fest, dass die Tatsache, dass die Ansprüche in der ursprünglich eingereichten Fassung keinen Hinweis auf das Verfahren zur Messung des durchschnittlichen Durchmessers der Partikel enthielten, nicht bedeute, dass zur Bestimmung dieses Parameters jedes beliebige Verfahren verwendet werden könne. Die Ansprüche ließen allenfalls zweifelhaft erscheinen, wie der durchschnittliche Durchmesser der Partikel ermittelt werden sollte, insbesondere weil der Fachperson bekannt sei, dass dem Messverfahren bei der Analyse der Partikelgröße entscheidende Bedeutung zukomme. Daher würde die Fachperson die Beschreibung und die Zeichnungen heranziehen, um zu ermitteln, wie der durchschnittliche Durchmesser der Partikel gemessen werden solle. Hierbei würde er zu dem Schluss gelangen, dass die Ansprüche in der ursprünglich eingereichten Fassung bei richtiger Auslegung im Lichte der ursprünglichen Beschreibung bereits Einschränkungen hinsichtlich des Messverfahrens für den durchschnittlichen Durchmesser der verschiedenen Partikel enthielten. (Die Rechtsprechung zur Notwendigkeit, das Messverfahren für einen Parameter im Anspruch anzugeben, ist in Kapitel II.C.6.6.9 "Analyseverfahren" dargelegt.)
In T 1946/10 befand die Kammer, dass gemäß der ständigen Rechtsprechung die Fachperson einen Anspruch mit der Bereitschaft auslegt, ihn zu verstehen, um so zu einer Auslegung zu gelangen, die technisch sinnvoll ist und bei der die gesamte Offenbarung des Patents berücksichtigt wird. Auch wenn er grundsätzlich bestrebt ist, den Anspruch aus dem Wortlaut und den verwendeten Begriffen heraus zu verstehen, kann es sein, dass er bei Unklarheiten die Beschreibung und die Zeichnungen heranziehen muss, um zu einem besseren Verständnis zu gelangen. Ausgehend vom Verständnis des hinzugefügten Merkmals, wie es sich bei dieser Anspruchsauslegung ergab, kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Aufnahme des Merkmals in die ursprüngliche Fassung von Anspruch 1 isoliert vom strukturellen und funktionalen Kontext eine neue, ursprünglich nicht offenbarte technische Lehre darstellt. Im selben Sinne s. T 2350/15 unter Verweis auf T 1592/14.
In T 516/18 ermittelte die Kammer, um den beanspruchten Gegenstand mit der Offenbarung der Anmeldung in der eingereichten Fassung vergleichen zu können, zunächst den tatsächlich aus den Änderungen in den ursprünglichen Ansprüchen resultierenden Gegenstand. Die Kammer erinnerte daran, dass der Anspruch von einer zum Verständnis bereiten Fachperson gelesen und ausgelegt werden muss, die den Worten die Bedeutung und den Umfang verleiht, die sie auf dem für die Erfindung relevanten Gebiet der Technik – auch im Hinblick auf den technischen Inhalt des Anspruchs – haben. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern jedoch gilt die Heranziehung der Beschreibung und der Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche als zulässig und sogar erforderlich, wenn die Fachperson bei dem Versuch, den Anspruch mit der Bereitschaft zum Verständnis auszulegen, mit unklaren und/oder widersprüchlichen Merkmalen konfrontiert ist. Nach Auffassung der Kammer war dies hier der Fall.
In T 1127/16 befand die Kammer jedoch wie folgt: Dass ein Patentanspruch mit der Bereitschaft auszulegen ist, ihn zu verstehen (T 190/99), bedeutet nicht, dass die Beschreibung und die Zeichnungen automatisch zu konsultieren sind, damit – wenn der Anspruch ein "zweideutiges" Merkmal enthält (d. h. ein Merkmal, das zumindest theoretisch mehr als eine Auslegung zulässt), oder wenn der Anspruch als Ganzes eine oder mehrere Unstimmigkeiten aufweist – diese Zweideutigkeit oder Unstimmigkeit behoben werden kann. Vielmehr soll der Anspruch im Wesentlichen für sich genommen gelesen und ausgelegt werden (T 1018/02, T 1279/04, T 1404/05, T 197/10). Die Kammer unterstrich, dass ansonsten ein Anmelder (Patentinhaber) unter Umständen darauf verzichten könnte, z. B. im Erteilungsverfahren eine klare und eindeutige Formulierung der Anspruchsmerkmale vorzulegen, um dann im anschließenden Einspruchsverfahren nach Belieben auf eine stärker auf die Beschreibung gestützte Auslegung zurückgreifen zu können. Nach der sprachlichen Analyse von Anspruch 1 des Hauptantrags entschied die Kammer, dass das strittige Merkmal auf eine bestimmte Art gelesen würde. Auf technischer Ebene würde die Fachperson auch schlussfolgern, dass diese Auslegung völlig klar, kohärent und im Einklang mit den anderen Merkmalen des Anspruchs 1 war. Diese Auslegung des strittigen Merkmals führte jedoch zu einem Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ, weil in der Anmeldung in der eingereichten Fassung kein solches Merkmal offenbart war.
In T 195/20 ging es nach Auffassung der Kammer nicht darum, wie ein Linguist die Bedeutung des fraglichen Satzes auslegen würde, sondern wie es die Fachperson täte. Eine Sprachanalyse könne zwar bei der Feststellung hilfreich sein, wie eine Fachperson einen Satz in einem Anspruch verstehen würde, die Fachperson würde sich aber nicht darauf beschränken, die semantische Rolle von Wörtern in einem Satz zu bestimmen, sondern den Satz im Zusammenhang mit dem beanspruchten Gegenstand und der Anmeldung in ihrer Gesamtheit auslegen.
In T 1473/19 betonte die Kammer, dass Art. 69 (1) Satz 2 EPÜ zwar grundsätzlich erfordert, dass die Beschreibung und die Zeichnungen bei der Auslegung eines Anspruchs berücksichtigt werden, aber der Vorrang der Ansprüche nach Art. 69 (1) Satz 1 EPÜ beschränkt, wie weit die Bedeutung eines bestimmten Anspruchsmerkmals durch die Beschreibung und die Zeichnungen beeinflusst werden kann. Die ständige Rechtsprechung, wonach beschränkende Merkmale, die nur in der Beschreibung, aber nicht im Anspruch enthalten sind, nicht in den Patentanspruch hineingelesen werden dürfen, steht also voll und ganz in Einklang mit Art. 69 EPÜ in Verbindung mit Art. 1 des Protokolls über dessen Auslegung als Rechtsgrundlage für die Bestimmung des Gegenstands eines Patentanspruchs. Der Entscheidung T 1473/19 schloss sich die Kammer in T 367/20 an, die erklärte, dass die Auslegung und Bestimmung des Gegenstands ein und desselben Anspruchs in ein und demselben Einspruchs(beschwerde)verfahren vor dem EPA einheitlich und konsistent sein sollte, so auch für die Zwecke des Art. 123 (2) und (3) EPÜ. Weitere Einzelheiten zur Anspruchsauslegung finden sich in Kapitel II.A.6.3.
In diesem Zusammenhang s. auch unten Kapitel II.E.1.4.7 "Beseitigung von Inkonsistenzen und unklaren Merkmalen".