2.3. Schutzbereich
2.3.3 Allgemeine Anspruchsauslegung
Dieser Abschnitt befasst sich mit der allgemeinen Anspruchsauslegung für die Zwecke des Art. 123 (3) EPÜ. Für die Grundsätze der Anspruchsauslegung s. Kapitel II.A.6.1.
In der Entscheidung T 190/99 wird ausgeführt, wie ein erteilter Anspruch für die Zwecke des Art. 123 (3) EPÜ auszulegen ist. Die Fachperson sollte bei der Prüfung eines Anspruchs unlogische oder technisch unsinnige Auslegungen ausschließen. Sie sollte versuchen, durch Synthese, also eher aufbauend als zerlegend, zu einer Auslegung des Anspruchs zu gelangen, die technisch sinnvoll ist und bei der die gesamte Offenbarung des Patents berücksichtigt wird (Art. 69 EPÜ). Das Patent ist mit der Bereitschaft auszulegen, es zu verstehen, und nicht mit dem Willen, es misszuverstehen (auf diese häufig zitierte Entscheidung wurde im Zusammenhang mit Art. 123 (3) EPÜ unlängst beispielsweise in T 1084/10, T 1009/12, T 916/15, T 2450/22 verwiesen).
In T 111/22 bestätigte die Kammer den Ansatz von T 190/99 und ergänzte, dass der Umfang, in dem die Bedeutung eines Anspruchsmerkmals durch die Beschreibung und/oder die Zeichnungen beeinflusst werden kann, begrenzt ist. Im Hinblick auf den Grundsatz des Anspruchsprimats bei der Auslegung der Ansprüche haben im Falle eines eindeutigen Widerspruchs zwischen den Ansprüchen und der Beschreibung die Ansprüche Vorrang. Versteht also eine Fachperson einen Anspruch unter Berücksichtigung der grammatikalischen Regeln, der üblichen Bedeutung der verwendeten Begriffe und des allgemeinen Fachwissens ohne jeden Zweifel in einer bestimmten Weise, so hat diese Auffassung in der Regel Vorrang vor einer nebensächlichen und widersprüchlichen Aussage in der Beschreibung, insbesondere wenn diese Aussage lediglich eine vorgebliche Ausführungsform betrifft.
In T 953/22 ließ sich die Kammer nicht vom Gegenargument des Beschwerdeführers überzeugen, dass eine Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und der Beschreibung kein triftiger Grund sei, um die klare sprachliche Struktur eines Anspruchs zu ignorieren und den Anspruch anders zu interpretieren oder einem Anspruchsmerkmal, das als solches der Fachperson eine klare, glaubhafte technische Lehre vermittelt, eine andere Bedeutung zu geben. Die Kammer erläuterte, dass die Beschreibung und die Zeichnungen auch dann für die Zwecke des Art. 123 (3) EPÜ herangezogen würden, wenn die Ansprüche eindeutig und unmissverständlich wären. Sie fänden nicht nur Berücksichtigung, um Lücken zu füllen. Unter Hinweis auf Art. 1 des Protokolls über die Auslegung von Art. 69 EPÜ und G 2/88 (Nr. 4 der Gründe) erkannte die Kammer zwar den Grundsatz des Anspruchsprimats nach Art. 69 (1) EPÜ an, betonte allerdings, dass sie im vorliegenden Fall nicht so weit gehen würde festzustellen, dass die Offenbarung der Beschreibung und der Zeichnungen nicht in den Patentanspruch hineingelesen werden könnte. Die Kammer verwies auch auf G 1/93 (Nr. 11 der Gründe): "Es kommt grundsätzlich nicht darauf an, ob die Hinzufügung die Ansprüche, die Beschreibung oder die Zeichnungen betrifft, denn nach Art. 69 EPÜ und dem Protokoll über seine Auslegung wird der Schutzbereich des Patents durch all diese Komponenten bestimmt. Allerdings sind die Ansprüche in dieser Beziehung zweifellos die wichtigste Komponente."
In T 287/11 stellte sich die Frage, ob die Ansprüche gemäß dem Hauptantrag auch Stoffgemische oder Verfahren umfassten, die nicht unter die Ansprüche in der erteilten Fassung fielen. Die Kammer prüfte die vom Beschwerdeführer angeführte Entscheidung T 999/10, in der festgestellt worden war, dass es in Anbetracht der kaskadenartigen Formulierung des Anspruchs keinen Zweifel an der "Absicht" des Patentinhabers gebe, dass im Klebstoff keine anderen Blockcopolymere als solche des Typs SIS enthalten sein sollten. Der in T 999/10 beschriebene Ansatz wurde in T 262/13, T 1063/15 und T 2215/18 bestätigt. In T 287/11 stellte die Kammer allerdings fest, dass für die Auslegung des Schutzbereichs nicht die Absicht des Verfassers eines Anspruchs maßgeblich ist, da es sich hierbei um ein subjektives Kriterium handelt, sondern vielmehr die in einschlägigen Fachkreisen allgemein anerkannte Bedeutung der in diesem Anspruch definierten technischen Merkmale. T 287/11 wurde in T 881/11, T 52/13, T 865/13, T 514/14 und T 664/20 bestätigt.
In T 2174/16 erinnerte die Kammer daran, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit für Dritte von größter Bedeutung ist, wenn es um die Ermittlung des Schutzbereichs des erteilten Patents geht.