B. Rechtliches Gehör
1. Einleitung
Das Recht der Beteiligten auf ein faires Verfahren ist ein allgemein anerkannter Grundsatz des Verfahrensrechts nach Art. 125 EPÜ (T 669/90), der in allen Verfahren vor dem EPA zu beachten ist (R 2/14 vom 17. Februar 2015 date: 2015-02-17). Die Berechenbarkeit und Nachprüfbarkeit allen staatlichen Handelns zählt zu den unverzichtbaren Bestandteilen der Rechtsstaatlichkeit und der Anerkennung der prozessualen Grundrechte (G 3/08 date: 2010-05-12, ABl. 2011, 10). Es ist ein Grundrecht der Beteiligten, dass unabhängig von der Begründetheit ihres Vorbringens zu wahren ist. Seine Wahrung muss vorbehaltlos gewährleistet sein (R 3/10).
Nach Art. 113 (1) EPÜ dürfen Entscheidungen des Europäischen Patentamts nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Das rechtliche Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ ist ein fundamentaler Grundsatz (J 13/10) und von größter Bedeutung, um die Gerechtigkeit in Verfahren zwischen dem EPA und einem Verfahrensbeteiligten zu wahren (J 20/85, ABl. 1987, 102; G 4/92, ABl. 1994, 149). Es soll sicherstellen, dass kein Beteiligter in einer gegen seinen Antrag gerichteten Entscheidung durch Gründe und Beweismittel, zu denen er sich nicht äußern konnte, überrascht wird (R 2/14 date: 2015-02-17). Im mehrseitigen Verfahren spiegelt Art. 113 (1) EPÜ den Grundsatz wider, dass jeder Verfahrensbeteiligte ausreichend Gelegenheit haben muss, zum Vorbringen einer Gegenpartei Stellung zu nehmen (G 4/95).
Gemäß Art. 113 (2) EPÜ hat sich das EPA bei der Prüfung der europäischen Patentanmeldung oder des europäischen Patents und bei den Entscheidungen darüber an die vom Anmelder oder Patentinhaber vorgelegte oder gebilligte Fassung zu halten. Diese Bestimmung stellt einen wesentlichen Verfahrensgrundsatz dar und ist als Bestandteil des rechtlichen Gehörs von so grundlegender Bedeutung, dass jede – auch auf eine falsche Auslegung eines Antrags zurückzuführende – Verletzung dieses Grundsatzes prinzipiell als wesentlicher Verfahrensmangel zu werten ist (T 647/93, ABl. 1995, 132).
In T 737/20 stellte die Kammer jedoch klar, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör kein Selbstzweck sei. Eine Partei müsse nur dann zu materiell- oder verfahrensrechtlichen Fragen gehört werden, wenn diese zu Entscheidungen führen, die die berechtigten Interessen dieser Partei beeinträchtigen könnten. Mit der Entscheidung einer Kammer, eine Angelegenheit nicht zurückzuverweisen und in der Sache zu entscheiden, werde kein Beteiligter benachteiligt, somit bestehe keine rechtliche Verpflichtung nach Art. 113 EPÜ, die Parteien zu dieser Frage anzuhören. In der umgekehrten Konstellation, in der eine Kammer beabsichtigt, eine Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückzuverweisen, könnte ein Einsprechender ein berechtigtes Interesse daran haben, Rechtssicherheit in Bezug auf den Umfang und das Bestehen eines Monopolrechts zu erhalten. Wenn eine Kammer also erwägt, eine Angelegenheit zurückzuverweisen, anstatt selbst darüber zu entscheiden, könnte eine Anhörung der Parteien zu dieser Frage unter Umständen gerechtfertigt sein. Nach Auffassung der Kammer in T 1213/19 date: 2022-09-23 lassen sich weder aus Art. 113 (1) EPÜ noch aus Art. 113 (2) EPÜ Rechte des Anmelders oder des Patentinhabers ableiten, die das EPA verpflichten würden, einen von ihnen gestellten Änderungsantrag zu berücksichtigen. In T 2382/19 erläuterte die Kammer, dass es nicht eine Frage des rechtlichen Gehörs sei, ob die vom EPA vertretene Ansicht korrekt sei. Entscheidend bleibe, ob die Parteien eine Möglichkeit hatten, sich zu den Gründen auf die sich eine Entscheidung stützt, zu äußern.
Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im erstinstanzlichen Verfahren kann einen wesentlichen Mangel im Sinne des Art. 11 VOBK darstellen, der eine Zurückverweisung an die erste Instanz rechtfertigt (s. Kapitel V.A.9.4.), sowie einen wesentlichen Verfahrensmangel gemäß R. 103 (1) a) EPÜ, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigen kann, wenn dies der Billigkeit entspricht (s. Kapitel V.A.11.6.8.); s. z. B. J 13/10, T 820/10, T 623/12.
Ein schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 EPÜ im Beschwerdeverfahren kann einen Antrag auf Überprüfung durch die Große Beschwerdekammer begründen (Art. 112a (2) c) EPÜ; s. Kapitel V.B.4.3.). Ein Überprüfungsantrag kann auch darauf gestützt werden, dass eine beantragte mündliche Verhandlung nicht anberaumt oder über den Antrag eines Beteiligten nicht entschieden wurde. Beide zusätzlichen Gründe spiegeln auch einen Aspekt des Anspruchs auf rechtliches Gehör wider (s. Kapitel V.B.4.4. "Artikel 112a (2) d) EPÜ – sonstiger schwerwiegender Verfahrensmangel"). Die Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer zu Art. 112a EPÜ ist hauptsächlich in Kapitel V.B.4. nachzulesen, wo die Rechtsprechung zum Anspruch auf rechtliches Gehör dargestellt ist. Entscheidungen der Juristischen und der Technischen Beschwerdekammern über den Anspruch auf rechtliches Gehör werden hingegen fast ausschließlich im vorliegenden Kapitel behandelt; in Kapitel V.B.4.3. "Artikel 112a (2) c) EPÜ – angeblicher schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ" wird darauf nur ausnahmsweise eingegangen.
Zum rechtlichen Gehör im Prüfungsverfahren s. Kapitel IV.B.2. (insbesondere Kapitel IV.B.2.3. zur Zurückweisung einer Anmeldung nach einem einzigen Bescheid und Kapitel IV.B.2.6. zum Erlass eines weiteren Bescheids). Im Einspruchsverfahren ist der Anspruch auf rechtliches Gehör untrennbar mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung verbunden, s. Kapitel IV.C.6.1.; in Bezug auf das Einspruchsbeschwerdeverfahren s. Kapitel V.B.4.3.6 zur Verpflichtung der Kammer zur Neutralität; hinsichtlich der Verpflichtung der Einspruchsabteilung, die Beteiligten so oft wie erforderlich aufzufordern, eine Stellungnahme abzugeben, s. Kapitel IV.C.6.2.; zur Gelegenheit, zu neu geltend gemachten Einspruchsgründen Stellung zu nehmen, s. Kapitel IV.C.3.4.6; zur Wahrung des rechtlichen Gehörs im Kontext der Beweisaufnahme s. Kapitel III.G.3.3. Das rechtliche Gehör kann auch im Rahmen des verspäteten Vorbringens eine Rolle spielen (s. Kapitel IV.C.4. "Verspätetes Vorbringen neuer Dokumente, Angriffszüge und Argumente"). Zum Rechtserfordernis begründeter Entscheidungen nach R. 111 (2) EPÜ s. Kapitel III.K.3.4.