4.3.2 Offenkundige Vorbenutzung
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4.3.2 Offenkundige Vorbenutzung
Bei allen in Art. 100 EPÜ aufgeführten Einspruchsgründen gilt zwar dasselbe Beweismaß (vgl. T 270/90, ABl. 1993, 725); dennoch kennt die Rechtsprechung zwei unterschiedlich hohe Beweisstandards, wenn eine offenkundige Vorbenutzung bestritten wird – das "Abwägen das Wahrscheinlichkeit" und den "lückenlosen Nachweis". Die Kammer in T 1138/20 relativiert diese Unterscheidung.
Die Entscheidung T 1311/21 bekräftigte T 1138/20 und stellte fest, dass die binäre Herangehensweise an die Beweisführung sich als übermäßig formalistisch und vereinfacht erweisen kann. Entscheidend ist, dass das Entscheidungsorgan unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und der ihm vorliegenden einschlägigen Beweismittel davon überzeugt ist, dass eine behauptete Tatsache sich tatsächlich zugetragen hat. Im vorliegenden Fall gelangte die Kammer zu der Auffassung, dass keiner der beiden Beweisstandards anwendbar war. Siehe auch T 832/22.
In T 778/21 definierte die Kammer zwar die "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" als anzulegendes Beweismaß, befand aber, dass der erforderliche Beweismaßstab entweder die "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" ist (T 97/94) oder dass das Entscheidungsorgan mit einem hinreichenden Grad an Sicherheit zu überzeugen ist (T 1138/20, T 545/08).
Zur Beweislast s. T 2037/18 mit einer detaillierten Begründung zu dieser Frage (Vorbenutzung, Unterscheidung zwischen Zulässigkeit und Begründetheit des Einspruchs, Darlegungslast und Beweislast, Grundsatz "negativa non sunt probanda" (der ebenfalls in R 1/20 erwähnt wird), Nichtvertraulichkeitsvereinbarung, Wechsel der Beweislast) sowie Verweisen auf die umfangreiche diesbezügliche Rechtsprechung.
Zur Unterscheidung zwischen dem Nachweis einer Vorbenutzung und mündlicher Offenbarungen siehe T 1023/20 (Nr. 1.1.3 der Gründe), mit der sich auch Kapitel III.G.4.3.3 befasst.