4.3. Maßstab bei der Beweiswürdigung
4.3.1 Allgemeines zu beiden Beweismaßstaben
Die Organe des EPA entscheiden die ihnen vorgelegten Fragen auch auf der Grundlage der von den Beteiligten beigebrachten Beweise. Ihre Entscheidungen müssen nicht – und könnten in den meisten Fällen auch gar nicht – auf absoluter Gewissheit beruhen, sondern müssen vielmehr nach generellem Abwägen der Wahrscheinlichkeit getroffen werden, d. h. auf der Grundlage, dass ein Tatsachenkomplex mit größerer Wahrscheinlichkeit richtig ist als der andere. Dieser Grundsatz des Abwägens der Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass die einzelnen Faktoren so bewertet werden, dass die Kammer schließlich in die eine oder andere Richtung überzeugt ist. Dieser Maßstab wird insbesondere im Einspruchsbeschwerdeverfahren angewandt, in dem Entscheidungen der Kammern nach generellem Abwägen der Wahrscheinlichkeit und nicht "zweifelsfrei" oder "mit absoluter Gewissheit" getroffen werden müssen (bezüglich des zuletzt genannten Ansatzes, s. T 2451/13). Alle Beteiligten müssen die von ihnen behaupteten Tatsachen daher mit diesem Grad an Wahrscheinlichkeit beweisen (s. z. B. T 182/89, ABl. 1991, 391; T 270/90, ABl. 1993, 725; T 859/90, T 109/91, T 409/91, ABl. 1994, 653; T 1054/92 vom 20. Juni 1996 date: 1996-06-20, T 296/93, ABl. 1995, 627; T 326/93, T 343/95, T 363/96). Der Beweismaßstab des Abwägens der Wahrscheinlichkeit wird auch im Ex-parte-Verfahren (T 381/87, ABl. 1990, 213; T 69/86, T 128/87 date: 1988-06-03, ABl. 1989, 406; T 939/92, ABl. 1996, 309; T 545/08 zu Internet-Veröffentlichungen) angelegt.
Je schwerwiegender eine Tatfrage ist, die das EPA untersucht und nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit entscheidet, desto stichhaltiger muss das zugrunde liegende Beweismaterial sein. Führt die Entscheidung über diese Frage möglicherweise zur Zurückweisung einer europäischen Anmeldung oder zum Widerruf eines europäischen Patents – z. B. wegen einer angeblichen Vorveröffentlichung oder Vorbenutzung -, so ist das vorliegende Beweismaterial sehr kritisch und genau zu prüfen. Eine europäische Patentanmeldung sollte nur zurückgewiesen und ein europäisches Patent nur widerrufen werden, wenn die Zurückweisungs- bzw. Widerrufsgründe (d. h. die rechtlichen und faktischen Gründe) voll und ganz bewiesen sind (T 750/94, ABl. 1998, 32; T 329/02; T 750/94 ist von der Kammer in T 545/08 im Kontext des Beweismaßes angeführt). S. die Richtlinien G‑IV, 1 "Stand der Technik – Allgemeines und Definition" – Stand November 2015: "Hat der Anmelder guten Grund zu bezweifeln, dass das Dokument in Bezug auf seine Anmeldung als "Stand der Technik" anzusehen ist, und können auch weitere Ermittlungen diese Zweifel nicht ausräumen, so sollte der Prüfer die Angelegenheit nicht weiterverfolgen." S. auch EPÜ Richtlinien G‑IV, 1 – Stand April 2025.
In T 286/10 wurde unter Verweis auf T 472/92 betont, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern bei der Beweiswürdigung im Allgemeinen als zutreffend gilt, was am wahrscheinlichsten erscheint; eine Ausnahme wird in dieser Entscheidung nur für eine behauptete offenkundige Vorbenutzung gemacht, bei der nahezu alle Beweismittel der Verfügungsmacht und dem Wissen des Einsprechenden unterliegen (s. dieses Kapitel III.G.4.3.2 "Offenkundige Vorbenutzung"). Das Abwägen der Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass diejenigen Elemente bewertet werden, die die Überzeugung der Kammer in die eine oder andere Richtung lenken könnten (T 286/10).
Bei Internet-Veröffentlichungen findet der Beweismaßstab des Abwägens der Wahrscheinlichkeit Anwendung (T 286/10, T 2227/11, T 1711/11, T 353/14, T 545/08. S. auch Kapitel I.C.3.2.3 "Internet-Offenbarungen" und I.C.3.5.2 c) "Internet – Nachweis des Datums der Bereitstellung" mit Hinweis auf die Richtlinien und auf das ABl. 2009, 456 - 462).
Die Kammer in T 1403/19 stellte hinsichtlich Art. 123 (3) EPÜ fest, dass bei der Prüfung der Zulässigkeit von Änderungen gemäß Art. 123 (3) EPÜ der sehr anspruchsvolle Standard der "an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" anzuwenden ist (s. T 307/05, T 2285/09, T 2275/17), sodass der geringste Zweifel, ob der Schutzumfang des Patents in geänderter Fassung Ausführungsformen umfassen könnte, die nicht vom Patent in ungeänderter Fassung gedeckt sind, die materielle Zulässigkeit der Änderung ausschließt.
Nach Auffassung der Kammer in T 658/04 kann eine Sachverständigenerklärung, die nicht durch nachprüfbare Fakten gestützt ist, sondern lediglich einige Hypothesen aufstellt, nicht das allgemeine Fachwissen widerspiegeln, das zur Beurteilung der ausreichenden Offenbarung im Sinne von Art. 83 EPÜ heranzuziehen ist. Daher gehörte die vom Beschwerdeführer (Patentinhaber) als Sachverständigengutachten vorgelegte Erklärung von U. K. Pandit nicht zum allgemeinen Fachwissen. Außerdem ist in T 658/04 zusammengefasst, was laut der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zum allgemeinen Fachwissen zählt.
Für Fallbeispiele zu Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand s. Kapitel III.E.4.4.
- Unterscheidung zwischen dem Maßstab an die Offenbarung und bei der Beweiswürdigung
In T 1708/18 argumentierte der Beschwerdeführer I (Patentinhaber) zur Neuheit, dass der korrekte Standard für die Beurteilung der Neuheit die "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" ist. Es müsse also zweifelsfrei und nicht nur wahrscheinlich sein, dass der beanspruchte Gegenstand dem Stand der Technik unmittelbar und eindeutig zu entnehmen ist. Die Kammer befand, dass die Frage, ob ein bestimmter bekannter Antikörper an ein bestimmtes Polypeptid binden kann, eine Tatsachenfrage ist. Der zur Entscheidung über Tatsachenfragen allgemein am EPA angewandte Beweismaß sei die Abwägung der Wahrscheinlichkeit. Dieser Standard greift auch bei der Prüfung von Tatsachenfragen im Zusammenhang mit Neuheit. Die Kammer war von den Argumenten der Einspruchsabteilung und des Patentinhabers nicht überzeugt, wonach im vorliegenden Fall ausnahmsweise ein höherer Standard anzusetzen war. In ihrer Begründung schien die Einspruchsabteilung zwei unterschiedliche, voneinander unabhängige Fragen vermischt zu haben. So stellte die Kammer in Nr. 1 des Orientierungssatzes fest, dass die Frage nach dem anzuwendenden Maßstab an die Offenbarung bei der rechtlichen Beurteilung der Neuheit und die Frage nach dem anzuwendenden Beweismaß bei der Beurteilung von Beweismitteln und Tatsachenfragen voneinander zu unterscheiden und unabhängig sind. Die Tatsache, dass der zur Feststellung eines Neuheitsmangels (oder für die materielle Zulässigkeit einer Änderung der Anmeldung nach Art. 123 (2) EPÜ) an die Offenbarung gestellte Maßstab der Standard einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung ist, sei für die Frage, welches Beweismaß bei der Beurteilung von Beweismitteln und Tatsachenfragen im Zusammenhang mit der Neuheit (oder erfinderischen Tätigkeit) anzuwenden ist, unerheblich.
Im Ex-parte-Fall T 1624/21 ging die Kammer nicht explizit auf die Unterscheidung zwischen den beiden Beweismaßstäben ein, stellte jedoch fest, dass es sich um eine Tatsachenfrage handelt, ob ein in einer Entgegenhaltung offenbarter Antikörper an ein bestimmtes Antigen oder Epitop bindet oder nicht. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern greift bei der Beurteilung, ob eine bestimmte Tatsachenfeststellung wahr ist oder nicht, die Abwägung der Wahrscheinlichkeit. Dieses Beweismaß gilt auch bei Tatsachen, die für die Beurteilung der Neuheit relevant sind. Absolute Sicherheit, wie von der Prüfungsabteilung gefordert, sei nicht erforderlich.