5.2.2 Fälle, in denen die Beweislast umgekehrt wurde
In G 1/22 und G 2/22 (ABl. 2024, A50) kam die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass es eine widerlegbare Vermutung nach dem autonomen Recht des EPÜ gibt, dass ein Anmelder, der eine Priorität unter Beachtung des Art. 88 (1) EPÜ und der entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung beansprucht, zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt ist. Diese Vermutung ist angesichts des Zwecks von Prioritätsrechten, des Fehlens von Formerfordernissen für deren Übertragung und des angenommenen gemeinsamen Interesses des Prioritätsanmelders und des Nachanmelders begründet (G 1/22 und G 2/22, Nrn. 105, 112 der Gründe und Nr. I der Entscheidungsformel). Wie die Prioritätsberechtigung selbst unterliegen die Vermutung ihrer Existenz und die Widerlegung dieser Vermutung ausschließlich dem autonomen Recht des EPÜ. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer Widerlegung der Vermutung auch nationales Recht berücksichtigt werden muss.
Die widerlegbare Vermutung ist mit einer Umkehr der Beweislast verbunden, d. h. ein Beteiligter, der die Prioritätsberechtigung des Nachanmelders anficht, muss nachweisen, dass die Berechtigung fehlt. Besteht eine starke Vermutung, so ist die Hürde für ihre Widerlegung höher als bei einer schwachen Vermutung (G 1/22 und G 2/22, Nr. 109 der Gründe mit Zitat aus T 63/06).
Die Vermutung, dass der Nachanmelder zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt ist, ist unter normalen Umständen eine starke Vermutung, da die anderen Prioritätserfordernisse (die die Grundlage für die Vermutung der Prioritätsberechtigung bilden) in der Regel nur mit Zustimmung und sogar Mitwirkung des Prioritätsanmelders erfüllt werden können (G 1/22 und G 2/22, Nr. 110 der Gründe). Wer die Prioritätsberechtigung anficht, darf somit nicht nur spekulative Bedenken äußern, sondern muss nachweisen, dass konkrete Tatsachen ernsthafte Zweifel an der Prioritätsberechtigung des Nachanmelders begründen.
Siehe Kapitel II.D.2.4.1 zur Priorität.