2.3. Anwendung der Auslegungsgrundsätze des Wiener Übereinkommens in Entscheidungen der Beschwerdekammer
2.3.4 Spätere Übereinkunft oder Übung
Artikel 31 (3) Wiener Übereinkommen spezifiziert weitere Elemente, die bei der Betrachtung des Zusammenhangs einer Vorschrift zu berücksichtigen sind. In G 2/12 befand die Große Beschwerdekammer, dass nach Art. 31 (3) Wiener Übereinkommen jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder seine Anwendung und jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, zu berücksichtigen sind. Sie wies darauf hin, dass R. 26 (5) EPÜ (vormals: R. 23b (5) EPÜ 1973) als eine solche spätere Übereinkunft oder Übung betrachtet werden könne und R. 26 (1) EPÜ ausdrücklich die Heranziehung der Biotechnologierichtlinie vorsehe (s. G 2/06, ABl. 2009, 306, Nr. 16 der Gründe). Laut der Kammer in T 1063/18 konnte der Beschluss zur Genehmigung der R. 28 (2) EPÜ nicht als spätere Übereinkunft zwischen den Parteien betrachtet werden, die zur Auslegung des Vertrags im Sinne des Art. 31 (3) a) Wiener Übereinkommen heranzuziehen ist. In der Stellungnahme G 3/19 (ABl. 2020, A119, Nr. XIX der Gründe) heißt es, die Schlussfolgerung der Kammer in T 1063/18 scheine darauf zu beruhen, dass die Große Beschwerdekammer in G 2/12 eine definitive Auslegung des Umfangs des Patentierbarkeitsausschlusses getroffen habe, die nur durch eine förmliche Änderung des Artikels 53 b) EPÜ selbst aufgehoben werden könne. Diese Sichtweise, die laut G 3/19 weder vom EPÜ selbst noch von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz gestützt werde, sei jedoch zu streng, wenn man bedenke, dass Art. 53 b) EPÜ anerkanntermaßen auslegungsoffen sei und dass zudem eine später erlassene Regel, die von einer bestimmten Auslegung eines Artikels des EPÜ durch eine Beschwerdekammer abweiche, nicht für sich genommen ultra vires sei (s. T 315/03). Eine bestimmte Auslegung einer Rechtsvorschrift sei niemals in Stein gemeißelt, weil sich die Bedeutung der Vorschrift im Laufe der Zeit ändern oder weiterentwickeln könne. Dieser Aspekt sei der laufenden Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung immanent. G 3/19 befand, die Große Beschwerdekammer, dass die legislativen und administrativen Entwicklungen in einem Viertel der Vertragsstaaten keine spätere Übereinkunft oder spätere Übung im Sinne des Art. 31 (3) a) bis b) Wiener Übereinkommen darstellten. Allerdings betrachtete die Große Beschwerdekammer die Aufnahme von R. 28 (2) EPÜ als eindeutige gesetzgeberische Absicht im Sinn von Art. 31 (4) Wiener Übereinkommen, die nicht ignoriert werden dürfe. Dies wurde als ein Grund für einen dynamische Auslegung erachtet.