2.3. Anwendung der Auslegungsgrundsätze des Wiener Übereinkommens in Entscheidungen der Beschwerdekammer
2.3.3 Teleologische Auslegung
Die Große Beschwerdekammer wendet das Verfahren der teleologischen Auslegung zur Auslegung von Rechtsvorschriften an; dabei werden die entsprechenden Bestimmungen im Lichte ihres Zwecks, der zugrunde liegenden Werte sowie ihrer rechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ziele ausgelegt. Hierbei untersucht sie den objektiven Sinn und Zweck einer Rechtsnorm (z. B. G 1/88, Nr. 5 der Gründe; G 1/03, ABl. 2004, 413, Nr. 2.1.1 der Gründe). Ausgangspunkt ist dabei die Ermittlung des Grundgedankens der betreffenden Vorschrift (ratio legis), weil die Auslegung nicht dem Geist der Vorschrift entgegenstehen darf (G 6/91, Nr. 8 der Gründe). G 1/18 bekräftigt unter Nr. IV.3 der Gründe diesen Absatz aus Nr. VII.3 der Gründe von G 2/12. Das diesbezügliche Zwischenergebnis von G 1/18 lautet, dass die teleologische Auslegung von Art. 108 EPÜ Sätze 1 und 2 EPÜ zu denselben Zwischenergebnissen wie die wörtliche und die systematische Auslegung gelangt.
Bei der Auslegung von Art. 116 EPÜ stellte die Große Beschwerdekammer in G 1/21 fest, dass es Ziel und Zweck des EPÜ ist, ein System zur Erteilung europäischer Patente bereitzustellen, um Innovationen und technologischen Fortschritt zu fördern. Nach der Auffassung der Großen Beschwerdekammer widerspricht es diesem Ziel und Zweck, wenn die Absicht des Gesetzgebers darin besteht, künftige Formate für mündliche Verhandlungen auszuschließen, die der technologische Fortschritt ermöglicht. Konkret ist es, da der Sinn und Zweck mündlicher Verhandlungen darin besteht, den Beteiligten Gelegenheit zur mündlichen Verteidigung ihres Falls zu geben, unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber potenzielle künftige Formate, die dies ermöglichen, unterbinden wollte. Daher gibt es keine Grundlage zu schlussfolgern, dass der Begriff "mündliche Verhandlung" beschränkter als in seiner gewöhnlichen Bedeutung zu verstehen ist oder dass mündliche Verhandlungen in einem bestimmten Format, das erst nach Abschluss des Gesetzgebungsprozesses verfügbar wurde, nicht unter die Bestimmungen von Art. 116 EPÜ fällt. Die Große Beschwerdekammer schlussfolgerte daher, dass mündliche Verhandlungen per Videokonferenz mündliche Verhandlungen im Sinn des Art. 116 EPÜ sind. S. auch Kapitel III.C.
Die Juristische Beschwerdekammer in J 7/21 stellte fest, dass der Zweck von R. 22 EPÜ welche die Eintragung von Rechtsübergängen regelt, darin besteht, die informative Rolle des Europäischen Patentregisters sicher zu stellen und Unklarheiten bezüglich des Eigentums an einer Patentanmeldung bei Verfahren vor dem EPA zu abzuwenden. Insbesondere solle mit R. 22 (3) EPÜ das wirksame Datum eines Eigentumsübergangs einer Patentanmeldung gegenüber dem EPA bestimmt werden. Diese Erfordernisse sind bei der rechtsgeschäftlichen Übertragung einer Patentanmeldung gerechtfertigt, da nur ein spezifisch benanntes Recht an einen Dritten übertragen wird und der frühere Patentinhaber – d. h. der Übertragende – weiterhin existiert. Im Falle einer Gesamtrechtsnachfolge hingegen wurde infolge des Erlöschens der Rechtspersönlichkeit des Eigentümers der Patentanmeldung automatisch das gesamte Vermögen übertragen. Daher bestand weder Verwechslungsgefahr zwischen zwei Rechtseinheiten, die als Eigentümer der Patentanmeldung betrachtet werden konnten, noch hinsichtlich des Umfangs der übertragenen Rechte, da das gesamte Vermögen als Einheit verbleib. Somit sah die Juristische Beschwerdekammer keinen Grund, die Wirkung des Vermögensübergangs gegenüber dem EPA bis zum Tag und Zeitpunkt der Beweiserbringung über das Erlöschen der Rechtspersönlichkeit des vorherigen Eigentümers der Patentanmeldung sowie die Identität des Gesamtrechtsnachfolgers zu verzögern.
In T 844/18 musste sich die Kammer, da die gewöhnliche Bedeutung des Begriffs "any person" in Art. 87 (1) EPÜ unklar war, mit Ziel und Zweck der PVÜ sowie mit politischen Erwägungen im weiteren Sinne befassen. Dies entsprach auch Art. 31 (1) und 33 (4) Wiener Übereinkommen.