2.3. Anwendung der Auslegungsgrundsätze des Wiener Übereinkommens in Entscheidungen der Beschwerdekammer
2.3.6 Ergänzende Auslegungsmittel – "Travaux préparatoires"
Gemäß Art. 32 Wiener Übereinkommen können ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten ("Travaux préparatoires") zum Vertrag und die Umstände des Vertragsabschlusses, herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Art. 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Art. 31: a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt (s. T 128/82, ABl. 1984, 164; s. auch G 2/07, ABl. 2012, 130, Nr. 4.3 der Gründe; G 1/08, Nr. 4.3 der Gründe; G 2/12 und G 2/13, Nr. VII.5.(1) der Gründe; T 2320/16, Nr. 1.5.8 der Gründe).
In G 2/12 und G 2/13 (Nr. V. (4) der Gründe) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die vorbereitenden Arbeiten ("Travaux préparatoires") und die Umstände des Abschlusses des EPÜ lediglich als ergänzende Quellen dienen, die das Ergebnis der Auslegung bestätigen oder herangezogen werden, wenn bei Anwendung der allgemeinen Auslegungsregel keine sinnvolle Bedeutung zu bestimmen ist (Art. 32 Wiener Übereinkommen).
Laut der Stellungnahme G 1/18 geht aus Art. 32 Wiener Übereinkommen hervor, dass vorbereitende Arbeiten und die Umstände des Abschlusses des EPÜ heranzuziehen sind, um eine Bedeutung zu bestätigen oder eine Bedeutung zu bestimmen, wenn die erste Auslegung gemäß der gewöhnlichen Bedeutung zu Mehrdeutigkeit oder einem sinnwidrigen Ergebnis führen würde. In G 1/18 führte die Große Beschwerdekammer auch die Schlussfolgerungen, die die Beschwerdekammern bei ihrer Analyse der "Travaux préparatoires" im Zusammenhang mit Art. 108 EPÜ gezogen hatten, an und befand sie für unrichtig. In Nummer V der Stellungnahme G 1/18 merkte die Große Beschwerdekammer an, dass weder Art. 108 EPÜ noch eine andere Bestimmung des EPÜ oder seiner Ausführungsvorschriften ausdrücklich die Rechtsfolgen aus Fällen darlege, in denen die Beschwerdeschrift oder die Beschwerdegebühr nicht innerhalb der Zweimonatsfrist gemäß Art. 108 EPÜ einging, und dass sich die Rechtsprechung diesbezüglich auf die vorbereitenden Arbeiten zu Art. 108 EPÜ gestützt hatte. Während in der Rechtsprechung "mehrheitlich" aus dem Schweigen der Bestimmung und bei bloßem Verweis auf die Travaux préparatoires zu Art. 108 EPÜ geschlussfolgert worden war, dass die Beschwerde in der Rechtsfolge als nicht eingelegt anzusehen sei, war in der Rechtsprechung eine "Minderheit" – basierend auf einer Analyse der vorbereitenden Arbeiten zu Art. 108 EPÜ und Heranziehung von R. 65 (1) EPÜ 1973 (nun R. 101 (1) EPÜ) – zu dem Schluss gekommen, dass eine solche Beschwerde unzulässig sei. Die Große Beschwerdekammer befand daraufhin, dass eine Analyse der Travaux préparatoires bezüglich der vormaligen R. 69 (1) EPÜ 1973 (nun R. 112 (1) EPÜ), und nicht des Art. 108 EPÜ, ergab, dass der Gesetzgeber ursprünglich dort das Vorsehen einer ausdrücklichen Bestimmung zur Rechtswirkung eines Rechtsverlusts im Falle einer als nicht eingelegt anzusehenden Beschwerde beabsichtigt hatte, sich jedoch im Laufe der Diskussionen zu der Regel und im Streben nach Vereinfachung in der Endversion von R. 69 (1) EPÜ 1973 für einen allgemeinen Wortlaut, der alle Rechtslagen im Zusammenhang mit einem Rechtsverlust abdeckte, entschieden hatte.
In G 4/19 befand die Große Beschwerdekammer, dass eine Vorschrift, die unter Art. 125 EPÜ fällt, auch Aspekte abdecken kann, die materiellrechtliche Fragen berühren. Diese Auslegung könne auf das Übereinkommen selbst gestützt werden, ohne dass die vorbereitenden Dokumente herangezogen werden (s. Nr. 27 der Gründe). Hinsichtlich eines anderen Aspekts der Auslegung von Art. 125 EPÜ (Rechtsgrundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung – die Frage nach der Existenz eines solchen Grundsatzes und ob dieser in den Vertragsstaaten allgemein anerkannt ist) erörterte die Große Beschwerdekammer, ob die vorbereitenden Arbeiten herangezogen werden können (s. Nrn. 43 ff., 63 und 76 der Gründe). In dieser Hinsicht schloss sich die Große Beschwerdekammer nicht der Auffassung an, dass die Auslegung des EPÜ (als solchen) eine klare Antwort liefere. Vielmehr gebe es auch auf der Grundlage von Art. 32 Wiener Übereinkommen gute Gründe für das Heranziehen der "Travaux préparatoires". Aus den vorbereitenden Dokumenten gehe mit überwältigender Deutlichkeit hervor, dass eine tatsächliche und wirksame Übereinkunft darüber bestand, dass das EPA die Doppelpatentierung verbieten sollte, indem es die in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts berücksichtigt, d. h. durch eine direkte Anwendung des Art. 125 EPÜ. Da der zuständige Gesetzgeber, hier die Diplomatische Konferenz, klargestellt hat, dass es sich um einen Grundsatz handelt, der unter Art. 125 EPÜ fällt, was die Rechtsauslegung anbelangt, war das EPA dadurch nicht nur ermächtigt, diesen Grundsatz anzuwenden, sondern tatsächlich auch dazu verpflichtet. Zu einem konkreten Aspekt stellte die Große Beschwerdekammer weiter fest, dass es hilfreicher sei, die deutsche und nicht die englische Fassung der vorbereitenden Arbeiten heranzuziehen. Die französische Fassung war gleichbedeutend mit der deutschen (G 4/19, s. Nr. 88 f. der Gründe).
In J 4/91 (ABl. 1992, 402) beispielsweise griff die Juristische Beschwerdekammer auf historische Materialien zum EPÜ 1973 zurück, um ihre im Wege teleologischer und systematischer Auslegung der Vorschriften über die Nachfrist zur Zahlung von Jahresgebühren gewonnene Auffassung zu stützen. Der Zweck des Art. 53 b) EPÜ 1973, sein Verhältnis zu anderen internationalen Verträgen und Rechtstexten sowie seine Entstehungsgeschichte wurden in G 1/98 (ABl. 2000, 111) erörtert. Wortlautauslegung, systematische Auslegung, die Frage nach dem Willen des Gesetzgebers, die historische Auslegung und Erwägungen zur dynamischen Auslegung des Art. 55 (1) EPÜ 1973 führten die Große Beschwerdekammer zu dem Ergebnis in G 3/98 und G 2/99 (ABl. 2001, 62 und 83).