5. Zurücknahme von Anträgen
5.1. Umstände, aus denen sich die Antragsrücknahme zweifelsfrei ergibt
In dem Prüfungsverfahren, das zu der in T 996/12 zu überprüfenden Entscheidung geführt hatte, hatte der Beschwerdeführer per Brief einen neu gefassten Hauptantrag eingereicht und darüber hinaus ausdrücklich "die Erteilung eines Patents auf der Grundlage des mit diesem Schreiben eingereichten neu gefassten Hauptanspruchs" beantragt. Dieses Schreiben und der Antrag waren nach Auffassung der Kammer billigerweise so zu verstehen, dass der Beschwerdeführer klar beabsichtigte, nur diesen neuen Hauptantrag von der Prüfungsabteilung prüfen zu lassen. Anders als in dem Fall, in dem ein Anmelder einen oder mehrere Hilfsanträge einreiche, führe die Einreichung eines neuen Hauptantrags automatisch dazu, dass ein früherer Hauptantrag/frühere Hauptanträge ersetzt und – rechtlich gesehen – zurückgenommen würden. Diese Sichtweise ergebe sich unmittelbar aus dem von Art. 113 (2) EPÜ garantierten wesentlichen Verfahrensgrundsatz der Dispositionsmaxime (ne ultra petita). Dass die Prüfungsabteilung die letzte Änderung des Hauptantrags für unzulässig halte, könne den (die) rechtskräftig zurückgenommenen vorherigen Hauptantrag(-anträge) nicht "wiederbeleben" oder "wiederherstellen", was auch nicht geschehen sei. Siehe auch T 573/12, worin die Kammer den gleichen Ansatz verfolgte und hinzufügte, dass es Sache des Anmelders sei, anzugeben, ob er den früheren Antrag als Hilfsantrag aufrechterhalte.
In T 1411/21 hatte die Prüfungsabteilung entschieden, den Hauptantrag nicht zum Verfahren zuzulassen. Zur Behauptung des Beschwerdeführers, dass er sich nie dahin gehend geäußert habe, dass Gegenstände als fallen gelassen angesehen werden könnten, stellte die Kammer fest, dass bei einer Nichtzulassung nach R. 137 (3) EPÜ nicht automatisch der frühere Anspruchssatz wieder ins Verfahren aufgenommen wird, der zuvor von der Prüfungsabteilung zugelassen wurde, es sei denn, ein Anmelder hat angegeben, sich hilfsweise auf diesen stützen zu wollen (siehe T 690/09). Mit Verweis auf T 996/12 und T 573/12 bestätigte die Kammer, dass die Einreichung eines neuen Hauptantrags automatisch zur Ersetzung und rechtlich gesehen zur Zurücknahme früherer Hauptanträge führt.
In T 2301/12 hatte der Patentinhaber die ursprünglichen Anträge vor der Einspruchsabteilung durch neue Anträge ersetzt. Nach Auffassung der Kammer implizierte das Wort "ersetzen", dass der ursprüngliche Hauptantrag nicht mehr der aktuelle Hauptantrag war, und da auch nichts unternommen wurde, um ihn als neuen Hilfsantrag beizubehalten, drängte sich die Schlussfolgerung auf, dass er schlicht zurückgenommen wurde. Die neuen Anträge waren der Niederschrift beigefügt, und der erste war eindeutig mit "Hauptantrag" überschrieben. Die Kammer ließ das Argument nicht gelten, wonach die Überschriften von Anträgen lediglich als Mittel der Identifizierung dienten. Wenn ein Patentinhaber mehrere Anträge einreicht, muss es einen Hauptantrag geben, und in jeder Phase des Verfahrens muss klar sein, welcher Antrag dies ist.
Im gleichen Sinne urteilte die Kammer in T 52/15, dass die Einspruchsabteilung unter den gegebenen Umständen zu Recht davon ausgegangen war, dass jeder neu eingereichte "Hauptantrag" eindeutig den bzw. die zuvor eingereichten ersetzen sollte. Die Kammer betonte, dass die Zurücknahme eines Antrags ein ernstzunehmender Verfahrensschritt ist, der von den Beteiligten normalerweise ausdrücklich erklärt wird und der im Protokoll erwähnt werden muss (s. T 361/08). Allerdings erübrigt sich eine ausdrückliche Zurücknahme, wenn das Verhalten eines Beteiligten oder die von ihm im Verfahren eingeleiteten Schritte unmissverständlich sind (s. T 388/12). Die Kammer bestätigte, dass die Verfahrensorgane des EPA die Pflicht haben, dafür zu sorgen, dass jegliche Ungewissheit in Bezug auf Verfahrenshandlungen der Parteien geklärt wird. Ist eine Verfahrenshandlung eines Beteiligten hingegen klar und gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass seine Absichten nicht richtig verstanden wurden, so kann er nicht erwarten, die Folgen dieser Verfahrenshandlung nicht tragen zu müssen.
In T 1255/16 kam die Kammer aus folgenden Gründen zu dem Schluss, dass die zuvor eingereichten Anträge durch die neu eingereichten Ansprüche ersetzt worden waren: Die Erwiderung des Beschwerdeführers auf die vorläufige Stellungnahme, in der die Kammer Einwände gegen die zuvor eingereichten Anträge erhoben hatte, enthielt keine Argumente zu deren Stützung, sondern lediglich Gründe, warum die neu eingereichten geänderten Ansprüche EPÜ-konform seien; zudem widersprach der Beschwerdeführer nicht, als die Kammer ihn in einer weiteren Mitteilung über ihr Verständnis informierte, dass die neu eingereichten Ansprüche die bisherigen anhängigen Sachanträge ersetzten.
Eine konkludente Antragsrücknahme nahm die Kammer auch in T 1695/14 an. Sie befand zudem, dass frühere Anträge, die nicht als Haupt- oder Hilfsantrag weiterverfolgt, sondern (konkludent) zurückgenommen wurden, nicht im Verfahren verbleiben, denn das Verfahrensrecht kenne geltende und zurückgenommene Anträge, nicht aber ruhende Anträge.
In T 1155/17 hatte der Patentinhaber mit der Beschwerdeerwiderung einen Hauptantrag sowie die Hilfsanträge 1-6 eingereicht und die mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anträge nicht erwähnt. Nach Auffassung der Kammer war daraus ersichtlich, dass die letzteren Anträge nicht weiterverfolgt werden sollten. Eine andere Interpretation, so die Kammer, würde dazu führen, dass es mehrere Hauptanträge und auch mehrere Hilfsanträge 1 und 2, also mehrere gleichrangige Anträge, im Verfahren gäbe.