3.4. Entscheidungsbegründung
3.4.2 Rechtliches Gehör – Anspruch auf Berücksichtigung von Eingaben
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist in Art. 113 EPÜ verankert, der lautet: "Entscheidungen des Europäischen Patentamts dürfen nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten." In ihrer Rechtsprechung zur Begründungspflicht nach R. 111 (2) EPÜ nehmen die Beschwerdekammern Bezug auf diesen Grundsatz (zu Art. 113 EPÜ s. auch Kapitel III.B.2.5. "Berücksichtigung der Argumente, Anträge, Beweismittel und des sonstigen Vorbringens der Beteiligten" und zu Art. 112a EPÜ s. auch Kapitel V.B.4.3.11 "Würdigung der Argumente der Parteien in der schriftlichen Entscheidung").
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art. 113 (1) EPÜ beinhaltet nicht nur das Recht, sich zu äußern, sondern auch das Recht darauf, dass diese Äußerungen gebührend berücksichtigt werden (s. z. B. R 8/15; J 7/82, ABl. 1982, 391; T 508/01; T 763/04; T 1123/04; T 246/08; T 1492/18 und T 431/21). Das Vorbringen eines Beteiligten muss in der anschließenden Entscheidung berücksichtigt werden (J 7/82, ABl. 1982, 391 und T 246/08).
Die unzureichende Begründung einer Entscheidung nach R. 111 (2) EPÜ kann zu einer Verletzung des in Art. 113 (1) EPÜ verankerten Anspruchs auf rechtliches Gehör führen (s. z. B. T 66/20 und T 1713/20). Durch eine angemessene Begründung seiner Entscheidung kann der Spruchkörper belegen, dass er die Erfordernisse des Art. 113 (1) EPÜ erfüllt hat (s. z. B. T 66/20 und T 1713/20). In diesem Sinne entschied die Kammer in T 363/22, dass die Entscheidung zumindest in Bezug auf den Einwand der mangelnden Neuheit gegenüber der Offenbarung des Dokuments D12, der gegen den Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung erhoben worden war, unzureichend begründet war, weil sie nicht auf die Argumente des Beschwerdeführers einging, und sich somit nicht feststellen ließ, ob diese Argumente gebührend berücksichtigt worden waren. In T 1713/20 befand die Kammer, dass die Entscheidung der Prüfungsabteilung in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit nicht ausreichend begründet war. Da die mangelnde erfinderische Tätigkeit aber der alleinige Grund für die Zurückweisungsentscheidung gewesen war, stellte diese unzureichende Begründung einen Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ dar. Der Kammer in T 1094/20 zufolge war die angefochtene Entscheidung nicht hinreichend begründet (R. 111 (2) EPÜ), denn wichtige Argumente des Patentinhabers wurden darin nicht gewürdigt. Dies stellte eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs dar (Art. 113 (1) EPÜ).
In R 8/15 stellte die Große Beschwerdekammer fest, Art. 113 (1) EPÜ impliziert, dass die Beschwerdekammern des EPA ihre Entscheidungen ausreichend begründen müssen, um zu belegen, dass die Beteiligten gehört wurden. Ein Beteiligter muss erkennen können, ob die Kammer ihm – seiner Meinung nach – das Recht auf Anhörung gewährt hat, damit er entscheiden kann, ob er einen Antrag nach Art. 112a (2) c) EPÜ stellt. Art. 113 (1) EPÜ ist aber enger auszulegen als R. 102 g) EPÜ, nach der eine Kammer ihre Entscheidung begründen muss; ein Verstoß gegen diese Regel ist aber für sich genommen kein Überprüfungsgrund. Für die Wahrung des rechtlichen Gehörs bedeutet dies, dass die Begründung zwar unvollständig sein kann, solange sie aber den Schluss zulässt, dass die Kammer im Laufe des Beschwerdeverfahrens einen bestimmten in diesem Verfahren vorgebrachten und für relevant befundenen Punkt sachlich geprüft hat, kein Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ vorliegt. Bezug nehmend auf R 8/15 befand die Große Beschwerdekammer in R 10/18, dass davon ausgegangen wird, dass eine Kammer das Vorbringen eines Beteiligten, auf das sie in der Entscheidungsbegründung nicht eingeht, berücksichtigt hat, es also in einem ersten Schritt zur Kenntnis genommen und in einem zweiten Schritt geprüft hat, d. h. beurteilt hat, ob es relevant ist und, wenn ja, ob es richtig ist. Die Große Beschwerdekammer räumte jedoch ein, dass eine Ausnahme vorliegen kann, wenn es gegenteilige Hinweise gibt, z. B. wenn eine Kammer in ihrer Entscheidungsbegründung auf ein Vorbringen eines Beteiligten, das objektiv gesehen für den Ausgang des Falls entscheidend ist, nicht eingeht oder dieses abweist, ohne es vorher auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Analog zum zweiten Orientierungssatz von R 10/18 befand die Kammer in T 1550/18, dass davon auszugehen ist, dass eine erstinstanzliche Abteilung das Vorbringen eines Beteiligten, auf das sie in ihrer Entscheidungsbegründung nicht eingeht, dennoch berücksichtigt hat, es also erstens zur Kenntnis genommen und zweitens geprüft hat, d. h. beurteilt hat, ob es relevant ist und, falls ja, ob es richtig ist. Die Kammer fügte hinzu, dass eine Ausnahme vorliegen kann, wenn es gegenteilige Hinweise gibt, z. B. wenn eine erstinstanzliche Abteilung in ihrer Entscheidungsbegründung auf ein Vorbringen eines Beteiligten, das objektiv gesehen für den Ausgang des Falls entscheidend ist, nicht eingeht. Siehe auch Kapitel III.B.2.5. "Berücksichtigung der Argumente, Anträge, Beweismittel und des sonstigen Vorbringens der Beteiligten" und Kapitel V.B.4.3.11 "Würdigung der Argumente der Parteien in der schriftlichen Entscheidung".
So wies die Kammer in T 1123/04 darauf hin, dass das durch Art. 113 (1) EPÜ garantierte Recht, sich zu äußern und seinen Standpunkt darzulegen, ein fundamentaler Grundsatz des Prüfungs-, Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens ist. Sie zitierte T 508/01, wonach dies nicht nur das Recht beinhaltet, sich zu äußern, sondern auch das Recht darauf, dass diese Äußerungen gebührend berücksichtigt werden (s. auch T 2915/19).
In T 246/08 stellte die Kammer fest, dass aus den Gründen hervorgehen muss, dass bei der Entscheidungsfindung eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kernargumenten stattgefunden hat (s. auch T 363/22). Es muss daraus erkennbar sein, dass alle von einem Beteiligten vorgebrachten möglicherweise gegen die Entscheidung sprechenden Argumente tatsächlich widerlegbar sind (s. auch T 337/17, T 1655/21). Die Kammer berief sich auf T 763/04 und führte aus, dass die bloße Wiedergabe des Vortrags der Parteien insoweit nicht genügt. In T 1997/08 wurde darüber hinaus entschieden, dass Stellungnahmen, die auf Bescheide des Amts hin ergangen sind, berücksichtigt werden müssen. In diesem Sinne stellte die Kammer in T 1997/21 fest, dass aus der angefochtenen Entscheidung die Auffassung der Prüfungsabteilung zu den Argumenten des Anmelders, welche er erst nach dem Erlass der Mitteilung gemäß Art. 94 (3) EPÜ vorgebracht hatte, nicht hervorgehe. Es sei daher weder für den Anmelder noch für die Kammer nachvollziehbar, warum die Argumente des Anmelders die Prüfungsabteilung nicht überzeugten. Dies entspreche nicht den Begründungsanforderungen für Entscheidungen und verletze das rechtliche Gehör des Anmelders.
So hatte beispielsweise in T 420/86 die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung auf Umstände gestützt, zu denen sich die Parteien nicht äußern konnten, da erst aus der schriftlichen Begründung hervorging, dass ein weiteres Dokument entscheidungserheblich war.