3.4. Entscheidungsbegründung
3.4.3 Der Grundsatz der ausreichenden Begründung
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (s. z. B. T 951/92; T 740/93; T 278/00, ABI. 2003, 546; T 963/02; T 897/03; T 316/05; T 1182/05; T 1366/05; T 1709/06; T 2352/13; T 1655/21; T 1901/22) muss eine "begründete" Entscheidung alle zentralen Streitfragen behandeln. Die der Entscheidung zugrunde liegenden Argumente und alle maßgeblichen Erwägungen bezüglich der rechtlichen und faktischen Umstände des Falls müssten in der Entscheidung ausführlich gewürdigt werden.
In der Entscheidung sollte auf die Tatsachen, Beweismittel und Argumente eingegangen werden, die für die Entscheidung im Einzelnen maßgeblich waren. Darüber hinaus muss sie auch die logische Argumentationskette enthalten, die zur Bildung des Urteils geführt hat (s. T 292/90, T 278/00, T 316/05, T 1366/05, T 1612/07, T 1870/07, T 2366/11, T 66/20, T 1713/20, T 1532/21, T 1564/21).
Das Erfordernis der R. 111 (2) EPÜ, wonach eine Entscheidung zu begründen ist, ist nicht erfüllt, wenn die Entscheidung bloß Aussagen enthält, die bestenfalls zu Spekulationen darüber Anlass geben, was der Spruchkörper wohl ausdrücken wollte (T 278/00, T 1713/20, T 1532/21, T 1564/21). Dieses Erfordernis kann nicht so ausgelegt werden, dass im Falle einer unverständlichen und damit unzureichenden Entscheidungsbegründung die Kammer oder der Beschwerdeführer Vermutungen anzustellen hat, was damit gemeint sein könnte. Eine unzureichende Begründung kann nicht durch die spekulative Auslegung des Beschwerdeführers oder durch Mutmaßungen der Kammer wettgemacht werden (T 278/00).
Eine Entscheidung, die nur mit dem Hinweis auf einen vorangegangenen Bescheid begründet wird, erfüllt nur dann die Erfordernisse von R. 111 (2) EPÜ, wenn der Bescheid selbst diese Erfordernisse erfüllt (T 963/02, T 897/03, T 1612/07, T 2366/11). In der angefochtenen Entscheidung darf es nicht der Vermutung der Beschwerdekammer und des Beschwerdeführers überlassen bleiben, welche der in vorangegangenen Bescheiden angegebenen Gründe maßgeblich für die Zurückweisung der Anmeldung sein könnten (T 963/02, T 897/03, T 2366/11). Siehe auch in diesem Kapitel III.K.3.5.
Das Fehlen einer der R. 111 (2) EPÜ genügenden Begründung ist ein wesentlicher Verfahrensmangel, der die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung erforderlich macht (T 292/90, T 963/02, T 897/03, T 1366/05, T 1612/07, T 2366/11).
In T 70/02 entschied die Kammer, dass in der Begründung zwar nicht alle vorgebrachten Argumente eingehend behandelt werden müssten, doch sei es ein allgemeiner Grundsatz des guten Glaubens und der Verfahrensgerechtigkeit, dass begründete Entscheidungen neben der logischen Kette von Tatsachen und Gründen, auf denen jede Entscheidung beruhe, zumindest einige Ausführungen zu entscheidenden Streitpunkten in der Argumentation enthalten sollten, soweit diese nicht bereits aus anderen Gründen hervorgehen.
In T 2241/19 vom 10. Juli 2024 date: 2024-07-10 betonte die Kammer, dass die endgültige Entscheidung, damit sie den Erfordernissen der R. 111 (2) EPÜ genügt, auf all jene Einwände eingehen muss, die potenziell zu einem anderen Ergebnis hätten führen können.
In T 1123/04 stellte die Kammer fest, dass es nicht ausreicht, wenn eine Beschwerdekammer die möglichen Gründe für eine negative erstinstanzliche Entscheidung erst rekonstruieren oder gar darüber spekulieren muss. Eine Entscheidung gemäß R. 68 (2) EPÜ 1973 sollte grundsätzlich vollständig und aus sich heraus verständlich sein. Wenn die einzigen von der Prüfungsabteilung vorgebrachten Argumente unsubstantiierte Behauptungen sind, so ist dies keine ausreichende Begründung.
In T 1622/21 befand die Kammer, dass weder "alle maßgeblichen Erwägungen bezüglich der rechtlichen und faktischen Umstände des Falls in der Entscheidung ausführlich gewürdigt werden" noch "die Entscheidung die logische Argumentationskette enthält", die zu der Feststellung geführt hat, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht erfinderisch ist. Die unzureichende Begründung der angefochtenen Entscheidung machte es der Kammer unmöglich, die Argumentationslinie der Prüfungsabteilung nachzuvollziehen, aufgrund deren diese eine mangelnde erfinderische Tätigkeit festgestellt hatte.
In T 596/22 erklärte die Kammer, dass das Erfordernis der ausreichenden Begründung nicht verlangt, dass die Einspruchsabteilung begründet, warum sie von ihrer vorläufigen Einschätzung abgewichen ist.