W. Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt
1. (Nicht) bindender Charakter der Richtlinien für die Beschwerdekammern
Die Richtlinien entfalten für die Beschwerdekammern keine Bindungswirkung.
In T 1561/05 bestätigte die Kammer, dass die Richtlinien für die Beschwerdekammern keine Bindungswirkung entfalten (im Anschluss an T 162/82, ABl. 1987, 533). Ferner wurde in J 7/10 auf T 1561/05 vom 17. Oktober 2006 date: 2006-10-17 verwiesen.
In T 740/98 verwies die Kammer insbesondere darauf, dass nach dem Rechtssystem des Übereinkommens die Richtlinien nicht bindend seien.
In T 1063/06 (ABl. 2009, 516) befand die Kammer, dass sich der Beschwerdeführer auf die von ihm angezogenen Richtlinien, aus denen er sein Anrecht auf eine aufgabenhafte Definition von chemischen Verbindungen vor der Kammer abzuleiten suchte, nicht erfolgreich berufen konnte. Es könne dahinstehen, ob der Vortrag des Beschwerdeführers, soweit er den Inhalt der Richtlinien betreffe, zutreffend sei oder nicht, denn diese Richtlinien würden vom Präsidenten des EPA erlassen und entfalteten für die Beschwerdekammern keine normative, bindende Wirkung (Verweis auf T 162/82 und Art. 23 (3) EPÜ).
In T 1356/05 bestätigte die Kammer, dass eine Bestimmung der Richtlinien nicht Vorrang vor einem Artikel oder einer Regel des EPÜ haben könne (s. auch T 1360/05 und T 861/02, in denen die Kammer die Aussagen in den Richtlinien zu Entscheidungen per Verweis auf frühere Bescheide zur Kenntnis nahm, aber erklärte, dass R. 68 (2) EPÜ 1973 (R. 111 EPÜ) immer entsprochen werden müsse).
In T 500/00 brachte der Beschwerdeführer vor, dass er den Disclaimer in gutem Glauben gemäß den Richtlinien und in Einklang mit der damaligen Rechtsprechung der Beschwerdekammern in den Anspruch aufgenommen habe. Die Kammer verwies darauf, dass die Richtlinien keine Rechtsvorschriften seien. Die Kammer stellte fest, dass nicht maßgeblich sei, ob die Einspruchsabteilung entsprechend den Richtlinien, sondern ob sie gemäß dem Übereinkommen gehandelt habe.
Betreffend die vorgeblich mangelhafte Übereinstimmung zwischen der ständigen Rechtsprechung der Kammern und den Richtlinien führte die Kammer in T 1741/08 aus, dass die Richtlinien für sie keine Bindungswirkung entfalteten, was ein wichtiger Faktor für die richterliche Unabhängigkeit der Beschwerdekammern sei (Art. 23 (3) EPÜ). Angebliche Abweichungen zwischen den Richtlinien und der Rechtsprechung könnten daher keine ausreichende Grundlage für die Anfechtung der Rechtsprechung durch Anrufung der Großen Beschwerdekammer sein. Auch in T 438/22 wurde festgestellt, dass eine Anrufung der Großen Beschwerdekammer nicht zulässig ist, wenn ihr einziger Zweck in der Berichtigung der Richtlinien besteht und sie weder für die Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsprechung innerhalb der Kammern noch für die Entscheidung der Kammer vonnöten ist. Eine solche Anrufung könnte als Versuch wahrgenommen werden, die Befugnisse des Präsidenten gemäß Art. 10 (2) a) EPÜ einzuschränken (Orientierungssatz und Nr. 8.2.2 der Entscheidungsgründe).
In T 1363/12 stellte die Kammer fest, dass die von der Großen Beschwerdekammer aufgestellten Grundsätze für die Beurteilung der Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ nicht durch den Erlass revidierter Richtlinien geändert werden können.
Im Ex-parte-Fall T 1090/12 verwies der Beschwerdeführer auf Abschnitt G‑VII, 3.1 der Richtlinien ("Eine Behauptung, dass etwas allgemeines Fachwissen ist, braucht nur dann belegt zu werden (z. B. durch ein Handbuch), wenn dies bestritten wird") und machte geltend, dass diese Passage für die Beschwerdekammern bindend sei, wenn diese im Rahmen der Zuständigkeit der Prüfungsabteilung tätig werde. Der Beschwerdeführer beantragte, die Große Beschwerdekammer mit der folgenden Frage zu befassen: "Inwieweit unterliegt eine Beschwerdekammer denselben Vorgaben wie die erste Instanz, z. B. der Verpflichtung, die Richtlinien zu befolgen, wenn sie im Rahmen der Zuständigkeit der ersten Instanz tätig wird, die für die nach Art. 111 (1) EPÜ angefochtene Entscheidung verantwortlich ist?" Die Kammer wies diesen Antrag zurück und stellte fest, dass die Richtlinien nicht Bestandteil des Europäischen Patentübereinkommens (s. Art. 164 (1) EPÜ 1973) und daher für die Mitglieder der Beschwerdekammern nicht bindend seien (s. Art. 23 (3) EPÜ 1973).
In T 246/22 befand die Kammer in der Frage, was im Verfahren vor der Einspruchsabteilung "in zulässiger Weise vorgebracht" (Art. 12 (4) VOBK) bedeutet, dass ein praktikabler Ansatz darin bestehen könnte, dass eine Kammer sich in die Lage der Einspruchsabteilung versetzt. Die betreffende Kammer müsste dann aus ihrer Perspektive nachvollziehen, wie die Einspruchsabteilung ihr Ermessen auf Basis der anwendbaren Verfahrensgrundlage hätte ausüben sollen, z. B. im Hinblick auf die aktuell geltenden Richtlinien. Eine der möglichen Konsequenzen dieses Ansatzes könne natürlich sein, dass die Kammern die jeweils geltenden Richtlinien genau überwachen müssten, um sich zu erschließen, wie die jeweilige Einspruchsabteilung ihr Ermessen hätte ausüben sollen. Außerdem wurde dieser Ansatz für nicht überzeugend befunden, weil die Richtlinien für die Kammern nicht bindend sind und die VOBK genehmigt und erlassen werden, um die Verfahren vor den Kammern zu regeln. Die Kammer schlug einen anderen Ansatz vor (s. auch T 1135/22, T 506/23, Konzept unabhängig von Richtlinien betrachtet). Zum Thema einer auf den anwendbaren Richtlinien basierenden Auslegung, s.T 364/20, T 1800/20, T 446/22, T 731/22, T 924/22, T 1178/23.
In T 364/20 (Antrag in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten) entschied die Kammer abweichend von den Richtlinien E‑VI-2.1 und E‑VI-2.2.2 – Stand 2023.
Dass die Richtlinien nicht bindend sind, bedeutet nicht, dass die Kammern ihnen nicht folgen oder sich nicht von ihnen inspirieren lassen (s. dieses Kapitel III.W.3.).