5.1.5 Ermessen bei der Zulassung von Änderungen
Regel 116 (1) EPÜ sieht vor, dass zeitgleich mit der Ladung ein Zeitpunkt bestimmt wird, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können. R. 132 EPÜ ist in diesem Zusammenhang nicht anwendbar, d. h. die üblichen Bestimmungen zur Verlängerung von Fristen gelten für diese Vorbringen nicht. Nach diesem Zeitpunkt vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel brauchen nicht berücksichtigt zu werden, soweit sie nicht wegen einer Änderung des dem Verfahren zugrundeliegenden Sachverhalts zuzulassen sind. R. 116 (2) EPÜ erlegt dem Anmelder bzw. Patentinhaber bei der Einreichung neuer Unterlagen, die den Erfordernissen des EPÜ entsprechen, dieselben Pflichten auf wie R. 116 (1) EPÜ den Parteien bei der Einreichung neuer Tatsachen und Beweismittel.
In T 382/97 führte die Kammer aus, dass R. 57a EPÜ 1973 (R. 80 EPÜ) und R. 71a EPÜ 1973 (R. 116 EPÜ) die verfahrensrechtlichen Vorbedingungen für Änderungen des Patents durch den Patentinhaber vor der Einspruchsabteilung festschreiben. R. 57a EPÜ 1973 schaffe die rechtliche Basis für solche Änderungen und R. 71a EPÜ 1973 bestimme die für eine solche Änderung angemessene Frist. Die Kammer wies darauf hin, dass Änderungen bei Versäumung einer nach R. 71a EPÜ 1973 gesetzten Frist dennoch zugelassen werden können, wenn gute Gründe für ihre verspätete Einreichung vorliegen.
In T 28/10 schloss sich die Kammer der Auffassung an, dass der Verfügungsgrundsatz durch den Konzentrationsgrundsatz begrenzt wird. Soweit es um die Änderung von Anspruchssätzen im Einspruchsverfahren gehe, sei der Konzentrationsgrundsatz in der R. 116 (2) EPÜ niedergelegt. Die nachträgliche Änderung des Vorbringens werde durch diese Vorschrift zwar nicht durch strikte Fristen für bestimmte Eingaben vollkommen ausgeschlossen, die Berücksichtigung derartiger Änderungen jedoch in das Ermessen des Entscheidungsorgans gestellt.
Die Kammer in T 1067/08 war ebenfalls der Auffassung, dass R. 116 EPÜ der Einspruchsabteilung das Ermessen einräumt, neue Änderungsanträge zurückzuweisen, wenn geänderte Ansprüche nach dem gemäß dieser Bestimmung festgelegten Zeitpunkt eingereicht werden. Dies gelte insbesondere für erstmals in der mündlichen Verhandlung gestellte Anträge (z. B. T 484/99, T 64/02). Der Kammer zufolge dient diese Bestimmung insbesondere dazu, Beteiligte daran zu hindern, sich durch missbräuchliche und gegen die Verfahrensökonomie verstoßende Taktiken einen ungerechtfertigten Verfahrensvorteil zu verschaffen. Daher müsse jede Änderung auf die zweckmäßigste Weise erfolgen, die von der Einspruchsabteilung unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten festzulegen sei (siehe auch T 382/97, T 1253/09). Das Ermessen, verspätete Anträge abzulehnen, müsse unter Abwägung aller im jeweiligen Fall rechtserheblichen Faktoren ausgeübt werden, wobei unter anderem zu berücksichtigen sei, ob gute Gründe für die verspätete Einreichung vorlagen, ob die übrigen Beteiligten mit Überraschungen konfrontiert wurden und ob durch die vorgenommenen Änderungen neue Fragen aufgeworfen wurden (siehe auch IV.C.5.1.7 "Grundsätze für die Ermessensausübung durch die Einspruchsabteilung").
Auch in T 688/16 führte die Kammer aus, dass Art. 114 (2) EPÜ nur ein Ermessen für die Zulassung oder Nichtzulassung von Tatsachen und Beweismitteln vorsieht und dass Grundlage für ein Ermessen, verspätet eingereichte Anträge nicht zuzulassen, R. 116 (2) EPÜ ist. Das Ermessen sei durch eine Mitteilung, dass Gründe der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen, bedingt. Im vorliegenden Fall sei jedoch keine negative Mitteilung erfolgt, sondern eine Mitteilung, wonach nach vorläufiger Ansicht der Einspruchsabteilung keiner der Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt entgegenstand, woraus die Kammer schloss, dass die (Nicht-)Zulassung des Hilfsantrags 3 im vorliegenden Fall überhaupt nicht im Ermessen der Einspruchsabteilung lag.
In T 1662/21 schloss sich die Kammer dem in T 688/16 dargelegten Standpunkt an und ergänzte, dass dies nicht bedeutet, dass jeder eingereichte Änderungsantrag zuzulassen ist. Die Einspruchsabteilung müsse zunächst feststellen, ob die Änderungen tatsächlich dazu dienten, die Einwände auszuräumen, und ob sie dies in einer den Umständen angemessenen und verhältnismäßigen Weise taten. Die Kammer verfüge also durchaus über ein Ermessen, müsse dieses aber anders ausüben als bei der Entscheidung über die Zulassung von nach dem Zeitpunkt gemäß R. 116 EPÜ eingereichten Änderungen, die nicht durch eine Änderung des Verfahrensgegenstands gerechtfertigt sind.
In T 1332/21 erkläret die Kammer, dass sich das Ermessen der Einspruchsabteilung, geänderte Ansprüche während der mündlichen Verhandlung zuzulassen, aus R. 116 (2) EPÜ ergibt, und verwies auf die letzten beiden Sätze von R. 116 (1) EPÜ, wonach solche Änderungen "nicht berücksichtigt zu werden [brauchen]". Bezüglich der Kriterien für die Anwendung dieses Ermessensspielraums verwies die Kammer auf die Richtlinien E‑III, 8.6 – Stand März 2021 (jetzt in EPÜ Richtlinien E‑VI, 2 – Stand April 2025). Zu den Grundsätzen für die Anwendung dieses Ermessens, siehe auch unten IV.C.5.1.7.