5.1.5 Ermessen bei der Zulassung von Änderungen
In T 755/96 befand die Kammer, die Befugnis der Einspruchsabteilung, verspätet vorgebrachte neue Tatsachen oder Beweismittel zuzulassen oder zurückzuweisen, sei in Art. 114 (2) EPÜ 1973 und das Ermessen, neue Änderungsanträge zurückzuweisen, in Art. 123 EPÜ 1973 und den entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung, d. h. R. 57a EPÜ 1973 (R. 80 EPÜ) geregelt (s. auch T 1903/13, in der Art. 123 (1) EPÜ als Rechtsgrundlage für das Ermessen der Kammern in Einspruchsbeschwerdeverfahren betrachtet wird). In mehreren neueren Entscheidungen wurde gleichfalls Art. 123 EPÜ (wenn auch in Verbindung mit R. 79 (1) und 81 (3) EPÜ) als Rechtsgrundlage für dieses Ermessen erachtet, nämlich T 966/17, R 6/19 und T 256/19.
In T 966/17 befand die Kammer, dass sich das Ermessen der Einspruchsabteilung, geänderte Anträge zum Verfahren zuzulassen, aus den folgenden Gründen grundsätzlich aus Art. 123 (1) EPÜ (erster Satz) in Verbindung mit R. 79 (1) und 81 (3) EPÜ ergibt: Nach Art. 123 (1) EPÜ kann die europäische Patentanmeldung oder das europäische Patent im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt nach Maßgabe der Ausführungsordnung geändert werden. R. 79 (1) EPÜ eröffnet im Einspruchsverfahren dem Patentinhaber die Möglichkeit, innerhalb einer von der Einspruchsabteilung gesetzten Frist die Beschreibung, die Patentansprüche und die Zeichnungen zu ändern. Die Zulassung späterer Änderungen steht dagegen im Ermessen der Einspruchsabteilung, wie sich etwa aus R. 81 (3) EPÜ ("wird gegebenenfalls Gelegenheit gegeben") erkennen lässt. Siehe auch T 1081/20.
In R 6/19 betrachtete die Große Beschwerdekammer Art. 123 (1) EPÜ als Grundlage für das Ermessen einer Einspruchsabteilung, Anträge zuzulassen oder zurückzuweisen. Sie stellte fest, dass im ersten Satz die generelle Möglichkeit genannt werde, Patentanmeldungen und Patente zu ändern, allerdings nur nach Maßgabe der Ausführungsordnung (R. 81 (3) EPÜ für das Einspruchsverfahren). Weiter bemerkte sie, dass der zweite Satz von Art. 123 (1) EPÜ dem Anmelder ausdrücklich das Recht einräume, mindestens einmal Gelegenheit zu erhalten, die Anmeldung zu ändern. Würde Art. 123 (1) Satz 1 EPÜ bedeuten, dass der Patentinhaber oder Anmelder immer das Recht hätte, sein Patent oder seine Anmeldung zu ändern, wäre Art. 123 (1) Satz 2 EPÜ redundant. Das in Art. 123 (1) Satz 2 EPÜ verankerte Recht auf mindestens eine Gelegenheit zur Änderung erstrecke sich nicht auf einen Patentinhaber im Einspruchsverfahren; hier werde der Einspruchsabteilung durch Art. 123 (1) Satz 2 EPÜ das Ermessen eingeräumt, derartige Anträge zurückzuweisen. In einem solchen Verfahren werde eine Gelegenheit zur Änderung nur soweit erforderlich gegeben (R. 81 (3) EPÜ). Die Große Beschwerdekammer erkannte keine Notwendigkeit, die Frage zu beantworten, ob auch Art. 114 (2) EPÜ eine Grundlage für die Zurückweisung von Anträgen darstelle.
In T 256/19 vertrat die Kammer die Auffassung, dass sich das Ermessen, eine geänderte Fassung eines Patents in Inter-partes-Verfahren unberücksichtigt zu lassen, nur aus Art. 123 (1) EPÜ in Verbindung mit R. 79(1) EPÜ und/oder R. 81 (3) EPÜ und, im Falle einer anberaumten mündlichen Verhandlung, mit R. 116 (2) EPÜ ergeben könne.
In J 14/19 sah die Kammer Art. 123 (1) EPÜ als zusätzliche Rechtsgrundlage neben Art. 114 (2) EPÜ an.