5.1.7 Grundsätze für die Ermessensausübung durch die Einspruchsabteilung
In vielen Entscheidungen urteilten die Beschwerdekammern, dass eine Entscheidung einer Einspruchsabteilung, Anträge nicht zuzulassen, die prima facie nicht gewährbar waren und in einem späten Stadium des Verfahrens eingereicht wurden, im pflichtgemäßen Ermessen getroffen wurde (s. z. B. T 171/03, T 484/11, T 1737/12, T 108/14, T 2332/15, T 1710/18, T 1617/20).
In T 491/09 war die Abteilung zu der Auffassung gelangt, dass der Antrag prima facie die auf Art. 100 b) EPÜ und Art. 100 c) EPÜ gestützten Einspruchsgründe ausräumt und aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung war ersichtlich, dass keine Klarheitseinwände erhoben worden waren.
In T 222/16 stellte die Kammer fest, dass der in der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung in Erwiderung auf eine Änderung des Verfahrensgegenstands eingereichte dritte Hilfsantrag nach R. 116 (2) EPÜ hätte zugelassen werden sollen. Nach ständiger Rechtsprechung sei das relevante Kriterium bei der Entscheidung über die Zulässigkeit verspätet eingereichter Anträge deren Prima-facie-Gewährbarkeit in Anbetracht des zu erörternden Einwands. Dieses Kriterium sei erfüllt gewesen, da die Änderung in Anspruch 1 eindeutig geeignet gewesen sei, den Einwand nach Art. 123 (2) und (3) EPÜ auszuräumen. Das Konvergenzkriterium, auf das sich die Abteilung stützte, sei von nachrangiger Bedeutung im Zusammenhang mit Einwänden nach Art. 123 (3) EPÜ.
In T 586/16 erkannte die Kammer an, dass die Prima-facie-Gewährbarkeit normalerweise das richtige Kriterium sei; im vorliegenden Fall hätte die Einspruchsabteilung jedoch den Hilfsantrag zulassen sollen, weil er eine Reaktion auf eine Meinungsänderung der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung gewesen sei.
In T 2683/17 urteilte die Kammer, dass die Einspruchsabteilung mit der Zulassung des dritten in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsantrags ihr Ermessen pflichtgemäß und nach Maßgabe des richtigen Kriteriums der Prima-facie-Gewährbarkeit ausgeübt habe, da sie die Änderungen prima facie für geeignet erachtet habe, den gegen die früheren Anträge erhobenen Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ auszuräumen, und da auch weitere Erfordernisse, insbesondere die Einhaltung von Art. 84 EPÜ, prima facie erfüllt gewesen seien.
In T 877/20 kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung unter Berücksichtigung der richtigen Kriterien ihr Ermessen bei der Zulassung des Hilfsantrags 4 korrekt ausgeübt hatte. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass die Streichung der Verfahrensansprüche den Einsprechenden nicht mit einem neuen Gegenstand konfrontiert habe und der Hilfsantrag 4 prima facie zulässig gewesen sei. Tatsächlich hatte die Einspruchsabteilung festgestellt, dass der Hilfsantrag 4 den Erfordernissen der R. 80 EPÜ und der Art. 84, 123 (2) EPÜ und Art. 123 (3) EPÜ genügte und die erhobenen Neuheitseinwände ausräumte.
Laut der Kammer in T 849/22 soll anhand des Kriteriums der Prima-facie-Gewährbarkeit beurteilt werden, ob die Zulassung verspätet eingereichter Änderungen, die den Verfahrensgegenstand gegenüber der vorherigen Erörterung des Falls ändern könnten, unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensökonomie gerechtfertigt ist. Die Kammer stellte fest, dass die Prüfung, ob ein unabhängiger Anspruch des Antrags – der gegenüber der fristgemäß eingereichten Einspruchserwiderung unverändert ist, von der Änderung nicht betroffen ist und mit dieser in keinem Zusammenhang steht – prima facie neu ist, eine falsche Anwendung des Prima-facie-Kriteriums darstellt.
- T 1398/23
In T 1398/23 entschied die Kammer, dass die Nichtzulassung des Hilfsantrags 2 durch die Einspruchsabteilung fehlerhaft war..
Die Einspruchsabteilung hatte den Antrag als verspätet angesehen, da er nach Ablauf der Frist nach R. 116 (1) EPÜ eingereicht worden war. "Um die Fairness des Verfahrens zu garantieren", prüfte sie daher, ob die Patentinhaberin den Antrag früher hätte einreichen können. Die Einspruchsabteilung stellte ferner fest, dass Hilfsantrag 14 rechtzeitig vor der Frist gemäß R. 116 (1) EPÜ eingereicht worden war, und dass der neu eingereichte Hilfsantrag 2 fast identisch zu Hilfsantrag 14 war, mit dem Unterschied, dass die Ansprüche 6 bis 10 aufrechterhalten wurden..
Aufgrund dieser Konstellation, kam die Einspruchsabteilung zu dem Schluss, dass die Patentinhaberin keinen Grund gehabt hatte, einen neuen Antrag mit zusätzlichen Ansprüchen einzureichen. Eine Änderung der Strategie einer Partei, die unabhängig vom Verfahrensverlauf ist, sei keine gültige Begründung für ein spätes Vorbringen. Der Hilfsantrag 2 hätte spätestens kurz vor Ablauf der Frist gemäß R. 116 (1) EPÜ eingereicht werden müssen und wurde daher von der Einspruchsabteilung gemäß Art. 114 (2) EPÜ nicht ins Verfahren zugelassen.
Die Kammer kam jedoch zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung die Ausgangslage unzutreffend ermittelt hatte. Maßgeblich war der Kammer zufolge, dass die Einsprechende am letzten Tag der Frist gemäß R. 116 (1) EPÜ erstmals einen Einwand unter Art. 54 (1) EPÜ in Bezug auf das Dokument D2 erhoben hatte und die Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung von ihrem Ermessen Gebrauch machte, diesen neuen Einwand zum Verfahren zuzulassen, auf dessen Basis der beanspruchte Gegenstand des Hauptantrags und des Hilfsantrags 1 dann als nicht neu angesehen wurden. Hilfsantrag 14 war hingegen eingereicht worden, bevor der Einspruchsabteilung der Einwand fehlender Neuheit im Hinblick auf D2 überhaupt bekannt war. Hilfsantrag 14 war ersichtlich ein Versuch, die davor erhobenen Einwände der Einsprechenden zu beheben bzw. der vorläufigen Meinung der Einspruchsabteilung Rechnung zu tragen. Dies bedeutet, dass Hilfsantrag 14 nicht als Reaktion auf den neuen Einwand unter Art. 54 (1) EPÜ im Hinblick auf D2 angesehen werden durfte. Entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung war Hilfsantrag 14 daher nicht Teil der Ausgangslage, die bei der Bestimmung der durch die Einreichung von Hilfsantrag 2 bewirkten Änderung zu berücksichtigen war.
Ausgehend davon, dass ein neuer Einwand unter Art. 54 (1) EPÜ erst am letzten Tag der Frist nach R. 116 (1) EPÜ erhoben worden war, dieser erst in der mündlichen Verhandlung durch die Einspruchsabteilung zum Verfahren zugelassen worden war und dann zur Ablehnung der Neuheit des beanspruchten Gegenstands führte, war die Einreichung eines neuen Hilfsantrags in der mündlichen Verhandlung als rechtzeitige und angemessene Reaktion zu bewerten. In diesem Falle lag die Zulassung des neuen Hilfsantrags 2 nicht im Ermessen der Einspruchsabteilung, sondern der Hilfsantrag 2 musste zugelassen werden.
Auch wenn Hilfsantrag 2 im Vergleich zu Hilfsantrag 14 nur zusätzliche Ansprüche aufweist, kann das Recht der Patentinhaberin, auf einen neuen Einwand mit einem neuen Anspruchssatz (Hilfsantrag 2) zu reagieren, nicht durch einen Anspruchssatz (Hilfsantrag 14) erschöpft werden, der sich bereits vor Einreichung des Einwands im Verfahren befand.
Da die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Hilfsantrag 2 nicht zuzulassen, fehlerhaft war, war die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Die Kammer hob die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurück (Art. 111 (1) EPC, Art. 11 VOBK).