5.1.7 Grundsätze für die Ermessensausübung durch die Einspruchsabteilung
Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern hat die folgenden Kriterien bestätigt, die die Einspruchsabteilung bei der pflichtgemäßen Ausübung ihres Ermessens nach Art. 114 (2) EPÜ oder R. 116 (1) oder (2) EPÜ berücksichtigen sollte: Prima-facie-Gewährbarkeit, Verfahrensökonomie, Verfahrensmissbrauch und die Frage, ob von den Einsprechenden erwartet werden konnte, dass sie sich in der verfügbaren Zeit mit der Änderung vertraut machen (s. z. B. T 491/09). S. auch EPÜ Richtlinien E‑VI 2.2.3 – Stand April 2025.
In T 500/15 stellte die Kammer fest, dass es unbestritten ist, dass eine solche Ermessensentscheidung unter Anwendung der in der Praxis des EPA anerkannten Kriterien zu treffen ist. Im vorliegenden Fall stimmte sie dem von der Einspruchsabteilung formulierten zusätzlichen Kriterium der "Komplexität der Änderung" zu und merkte an, dass die Anwendbarkeit der geprüften Verfahrenskriterien immer von ihrer tatsächlichen materiellrechtlichen Wirkung abhängen muss.
In T 2385/12 stellte die Kammer fest, dass die Fälle, in denen ein Organ des EPA ein Ermessen ausüben kann, nicht konkret formuliert sind, da die Art und Weise der Ermessensausübung notwendigerweise von den konkreten Umständen des jeweiligen Falles abhängt.
In T 1930/14 entschied die Einspruchsabteilung nach Berücksichtigung des Zeitpunkts der Einreichung des Hilfsantrags (der früher hätte eingereicht werden können), seiner Komplexität und seiner Prima-facie-Gewährbarkeit, den Hilfsantrag nicht zum Verfahren zuzulassen. Die Kammer war der Überzeugung, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach Maßgabe der richtigen Kriterien ausgeübt hatte und bei der Anwendung dieser Kriterien ihr Ermessen nicht auf unangemessene Weise ausgeübt hatte.
In T 84/17 gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen in vertretbarer Weise ausgeübt und die richtigen Kriterien angewandt hatte. Wie die Einspruchsabteilung richtigerweise betont habe, seien die Hilfsanträge ohne angemessene Begründung sehr spät eingereicht worden. Die zugrunde liegenden Einwände seien seit Einlegung des Einspruchs aktenkundig gewesen und ihre Relevanz sei in der Anlage zur Ladung kommentiert worden. Im Übrigen basiere die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die Anträge nicht zuzulassen, nicht ausschließlich auf der ungerechtfertigten Verspätung, sondern auch auf der Feststellung, dass von den Einsprechenden nicht erwartet werden könne, sich mit dem spezifischen, durch diese Hilfsanträge eingeführten beschränkten Gegenstand zu befassen, d. h. die Einspruchsabteilung hatte die Änderungen auch materiell geprüft. Nach Auffassung der Kammer erübrigt es sich, alle Kriterien zu erörtern, wenn die Argumente im konkreten Einzelfall zeigten, dass einige Kriterien so viel Gewicht haben, dass andere sie nicht aufwiegen können.
Nach Auffassung der Kammer in T 1617/20 verstößt es gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens und des Vertrauensschutzes, ein Merkmal des verspätet eingereichten Anspruchsantrags (Hilfsantrag 2), das bereits in höherrangigen Anspruchsanträgen vorhanden war (u.a Hilfsantrag 1) und gegen das bis dahin keine Einwände erhoben worden waren, auch nicht bei der Entscheidung über die Gewährbarkeit oder Zulassung dieser höherrangigen Anspruchsanträge, unter Berufung auf das Kriterium der Prima-facie-Gewährbarkeit nach Art. 123 (2) EPÜ erstmals in der mündlichen Verhandlung anzufechten. Die Einspruchsabteilung hätte bereits bei der Entscheidung über die Zulassung des Hilfsantrags 1 dieselben Kriterien anwenden müssen, wie für Hilfsantrag 2 verwendet worden war Dies nicht zu tun und somit die Entscheidung über die beiden Anträge auf unterschiedliche Kriterien zu stützen, führte zu einem inkonsistenten Ansatz. Die Einspruchsabteilung hatte folglich die verfügbaren Kriterien in unangemessener Weise angewandt und damit eine ermessensfehlerhafte Entscheidung getroffen.
In T 1081/20 befand die Kammer, dass die Zulassung des betreffenden Hilfsantrags nach Art. 123 (1) EPÜ in Verbindung mit R. 79 (1) EPÜ und/oder R. 81 (3) EPÜ im Ermessen der Einspruchsabteilung liegt. Eine Kammer dürfe eine solche Ermessensentscheidung nur dann aufheben, wenn die falschen Kriterien angewandt worden sind oder die Entscheidung in unangemessener Weise getroffen wurde. Siehe auch die ständige Rechtsprechung in Anbetracht von G 7/93 (ABl. 1994, 775), in Kapitel IV.C.5.1.8 und V.A.3.4.1.