5.1.7 Grundsätze für die Ermessensausübung durch die Einspruchsabteilung
Ob eine Änderung sachdienlich ist, kann in der Regel nur anhand ihres lnhalts beantwortet werden, also erst dann, wenn sie tatsächlich vorliegt. Eine pauschale Ablehnung jeglicher weiterer Änderungen ist nur dann vertretbar, wenn nach mehreren erfolglosen Änderungen erkennbar ist, dass sich der Patentinhaber nicht ernsthaft um eine Entkräftung der Einwände bemüht, sondern nur das Verfahren verschleppt (T 132/92; s. auch T 623/12 und T 1758/15, die auf T 246/08 verweist).
In T 491/09 stellte die Kammer fest, dass zum einen durch die unmittelbare Behandlung des dritten Hilfsantrags durch die Einspruchsabteilung anstelle der Überleitung ins schriftliche Verfahren eine Verfahrensverlängerung vermieden wurde und dem Beschwerdegegner keine weitere Verzögerung zugutekam. Zum anderen bestehe der Zweck einer mündliche Verhandlung eindeutig darin, dass alle Beteiligten die noch offenen Punkte und die dazu vertretenen Standpunkte einschließlich derjenigen der Einspruchsabteilung kennen. Die Nichtzulassung weiterer einfacher Änderungen zur Ausräumung entsprechender Punkte würde diesem Zweck eindeutig zuwiderlaufen. Dies, so die Kammer, gehe aus den damals geltenden Richtlinien (E‑III, 8.7 – Stand 2010) hervor, nach denen die Einspruchsabteilung, falls sie infolge einer Beschränkung/Änderung noch einen patentfähigen Überschuss zu erkennen vermag, den Inhaber sogar darauf hinweisen und ihm anheimstellen kann, geänderte Patentansprüche vorzulegen (siehe auch EPÜ Richtlinien E‑III, 8.9 – Stand April 2025). Vor diesem Hintergrund kam die Kammer zu dem Schluss, dass der Beschwerdegegner zwar eine gewisse Aufforderung benötigte, um diesen Antrag schließlich zu stellen und dem strittigen Punkt zu begegnen, dass dies jedoch weder einen Verfahrensmissbrauch noch einen ungerechtfertigten Vorteil für den Beschwerdegegner darstellte.
In T 28/10 kehrte der Patentinhaber, nachdem er im schriftlichen Verfahren einen eingeschränkten Anspruchssatz verteidigt hatte, in der mündlichen Verhandlung zu den erteilten Ansprüchen zurück. Die Einspruchsabteilung übte ihr Ermessen dahingehend aus, diesen Antrag nicht in das Verfahren zuzulassen, da sie in dessen später Vorlage einen Verfahrensmissbrauch sah. Dabei berücksichtigte sie auch, dass der Patentinhaber selbst eingeräumt hatte, dass der Antrag nicht den Erfordernissen des Art. 54 EPÜ entsprach. Die Kammer konnte keinen Ermessensfehler erkennen.
Auch in T 2385/12 kehrte der Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zu den erteilten Ansprüchen zurück. Die Einspruchsabteilung ließ diesen Antrag zu. Die Kammer urteilte, dass es zwar Fälle geben kann, in denen die Rückkehr zu den erteilten Ansprüchen in einem späten Stadium des Einspruchsverfahrens als Verfahrensmissbrauch angesehen wird, doch sei dies angesichts der vorliegenden besonderen Umstände (Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ entkräftet, keine Hinweise auf einen bewussten Versuch, den Einsprechenden zu täuschen) hier nicht der Fall. Die Kammer lehnte auch die Auffassung ab, dass es einen Punkt geben sollte, ab dem frühere Anträge aufgegeben sind und eine Rückkehr zu diesem Gegenstand unzulässig ist. Die Erteilung konkreter Hinweise darauf, wann Anträge gestellt werden können, sei im EPÜ nicht vorgesehen, insbesondere nicht im Hinblick auf die Ermessensausübung nach Art. 114 (2) EPÜ. Außerdem würde dies auch gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz verstoßen, dass ein Rechtsverzicht nicht vermutet werden kann. Siehe auch T 1770/16.
In T 368/16 hatte die Einspruchsabteilung dem Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung die Einreichung mehrerer Hilfsanträge gestattet. Seinen Antrag IVa hatte die Einspruchsabteilung jedoch nicht zugelassen. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung mit der Nichtzulassung des Antrags IV zum Verfahren ihr Ermessen nach R. 116 (2) EPÜ nicht auf angemessene Weise und nicht nach Maßgabe der richtigen Kriterien ausgeübt hatte, und begründete dies wie folgt: Der Antrag als solcher war geeignet, alle bis dahin in der mündlichen Verhandlung erörterten Einwände zu entkräften. Selbst wenn die Erörterung der erfinderischen Tätigkeit noch ausstand, konnte die Einreichung des Antrags IVa nicht als eine unnötige Verlängerung des Verfahrens gewertet werden; im Gegenteil: da er auf einer konvergenten Einschränkung gegenüber dem Antrag IIIb und einer Kombination von aus den erteilten Ansprüchen abgeleiteten Merkmalen beruhte, verringerte er eindeutig die Zahl der noch zu erörternden Fragen. Siehe auch T 222/16.
In T 802/17 hatte die Einspruchsabteilung dem Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung die Möglichkeit eingeräumt, "einen zusätzlichen Antrag zu formulieren". Da dieser jedoch in der Folge nur einen geänderten Hauptantrag einreichte, wurde sein späteres Ersuchen, auch noch geänderte Hilfsanträge einreichen zu dürfen, abgelehnt, da dies gegenüber dem Einsprechenden nicht "fair" gewesen wäre. Die Kammer sah die verfahrensökonomischen Gesichtspunkte nicht für geeignet, die Nichtzulassung im vorliegenden Fall zu rechtfertigen, da der Patentinhaber auf eine überraschende Verfahrenslage reagiert hatte und die Änderung den neuen Einwand nach Art. 123(2) EPÜ ausräumte. Siehe auch T 756/18, wo die Kammer befand, dass die Einspruchsabteilung die Grenzen ihres Ermessens überschritten hatte, da sie nur einen Hilfsantrag zuließ und weitere Anträge sofort und ohne offensichtliche triftige Gründe zurückwies, ohne zumindest geprüft zu haben, ob die Änderungen alle bis dahin wirksam vorgebrachten Einwände zu entkräften vermocht hätten, ohne neue zu begründen, sodass sie potenziell zulässig gewesen wären. Der Fall ließ keine Anzeichen eines Verfahrensmissbrauchs oder einer Verzögerungstaktik des Beschwerdeführers erkennen.
In T 879/18 befand die Kammer, dass ein Patentinhaber Gelegenheit zu Änderungen erhalten sollte, wenn neue Tatsachen und Beweismittel zugelassen werden, weil sich dadurch der Gegenstand des Verfahrens ändert. Im vorliegenden Fall war nach Auffassung der Kammer die Aufnahme von Einzelheiten aus der Beschreibung eine angemessene Reaktion und hätte zugelassen werden sollen. Auch in T 222/16 befand die Kammer, dass der Patentinhaber wenigstens eine Gelegenheit hätte erhalten sollen, einen neuen Antrag in Reaktion auf den neuen Einwand einzureichen, der vom Beschwerdegegner (Einsprechenden) erstmals am letzten Tag der Frist nach R. 116 EPÜ erhoben worden war. Zu den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs und der Gleichbehandlung der Beteiligten siehe auch T 487/13 (weiter oben unter Kapitel IV.C.5.1.6 zusammengefasst) und T 623/12.
In T 1219/19 machte der Beschwerdeführer geltend, dass die Einspruchsabteilung ihre Auffassung in der mündlichen Verhandlung geändert habe, und berief sich auf R. 116 (2) EPÜ, um zu argumentieren, dass die Einspruchsabteilung kein Ermessen habe, den nach Ablauf der gemäß R. 116 EPÜ gesetzten Frist eingereichten Hilfsantrag nicht zu berücksichtigen oder das Kriterium der Prima-facie-Gewährbarkeit anzuwenden. Die Kammer war der Auffassung, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach Maßgabe der richtigen Kriterien ausgeübt hatte. Eine Änderung der Auffassung der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung in Bezug auf ihre mit der Ladung kommunizierte vorläufige Meinung alleine könne nicht dazu führen, dass ihr dieses Ermessen entzogen wird. Außerdem sei in der vorläufigen Stellungnahme der Einspruchsabteilung deutlich darauf hingewiesen worden, dass diese Einwände in der mündlichen Verhandlung weiter erörtert werden sollten. Die vorläufige Schlussfolgerung sei vorsichtig formuliert und nicht so zu verstehen gewesen, dass die Einspruchsabteilung damit auf ihr Ermessen, verspätetes Vorbringen nicht zu berücksichtigen, verzichtete. Eine andere Schlussfolgerung sei zum Nachteil der sinnvollen Praxis der ausführlichen Erörterung der relevanten Fragen zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung. Unter den besonderen Umständen des Falles könne eine Änderung der Auffassung der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung in Bezug auf ihre mit der Ladung kommunizierte vorläufige Meinung nicht als eine Änderung des Verfahrensgegenstands angesehen werden.
Zum Begriff des Verfahrensmissbrauchs siehe auch die in Kapitel IV.C.4.5.4 zusammengefassten Entscheidungen zum verspäteten Vorbringen und insbesondere T 85/18, der zufolge ein Verfahrensmissbrauch ein absichtliches Fehlverhalten und keine bloße Sorgfaltsverletzung impliziert.