4.1.1 Rechtsgrundlagen
In der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) sind genaue Bestimmungen zu Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten enthalten, wonach insbesondere die Zulassung von nachträglichen Änderungen (unabhängig davon, ob es um Tatsachen, Einwände, Beweismittel oder Anträge geht) ausdrücklich in das Ermessen der Kammer gestellt wird. Im Jahr 2019 wurden umfangreiche Änderungen in der VOBK vorgenommen, die am 1. Januar 2020 in Kraft getreten sind (auf diese grundlegend überarbeitete Fassung wird im Folgenden als "VOBK", erstmals veröffentlicht im ABl. 2019, A63, erneut veröffentlicht im ABl. 2021, A35 mit Art. 15a VOBK und im ABl. 2023, A103 mit weiteren Änderungen, insbesondere in Art. 13 (2) und 15 (1) VOBK, Bezug genommen; allgemein zur Verfahrensordnung s. auch Kapitel V.A.1.2.).
Gemäß Art. 12 (2), (4) VOBK steht es im Ermessen der Kammern, eine Änderung des erstinstanzlichen Vorbringens eines Beteiligten nicht zuzulassen, genauer Beschwerdevorbringen nicht zuzulassen, das nicht auf die Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel gerichtet ist, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen, und für das der Beteiligte auch nicht gezeigt hat, dass es im erstinstanzlichen Verfahren in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurde. Ähnlich wie vorher Art. 12 (4) VOBK 2007 nennt Art. 12 (6) VOBK zudem ausdrücklich die Befugnis der Kammern, Anträge, Tatsachen, Einwände oder Beweismittel nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassen worden sind (Satz 1) oder die dort vorzubringen gewesen wären oder dort nicht mehr aufrechterhalten wurden (Satz 2). Dieses Vorbringen ist nicht zuzulassen, es sei denn die erstinstanzliche Nichtzulassungsentscheidung war ermessensfehlerhaft oder die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen eine Zulassung. Für Einzelheiten zur Auslegung dieser Vorschriften durch die Rechtsprechung, siehe Kapitel V.A.4.3. "Erste Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen in der Beschwerdebegründung und Erwiderung – Artikel 12 (3) bis (6) VOBK".
Art. 12 (3) und (5) VOBK spielen sowohl für die Zulässigkeit einer Beschwerde (s. Kapitel V.A.2.6.3 h)) als auch für die Zulassung von unvollständigen oder unsubstantiierten Anträgen, Tatsachen, Einwänden, Argumenten oder Beweismitteln im Beschwerdeverfahren eine Rolle (s. die in Kapitel V.A.4.3.5 zusammengefassten Entscheidungen). Die Rechtsprechung zum Aspekt der Zulassung ist im vorliegenden Kapitel V.A.4. enthalten, wobei das Erfordernis des "vollständigen Beschwerdevorbringens" nicht nur für neue Vorbringen im Beschwerdeverfahren gilt, sondern auch für Vorbringen, auf die sich die angefochtene Entscheidung stützt.
Gemäß Art. 13 (1) VOBK steht die Zulassung von Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nach Einreichung seiner Beschwerdebegründung oder Erwiderung im Ermessen der Kammer. Die Ermessenskriterien lehnen sich an die Kriterien aus Art. 13 (1) VOBK 2007 an und kodifizieren die zu dieser Bestimmung ergangene Rechtsprechung (s. z. B. T 634/16, T 700/15). Die Rechtsprechung zu Art. 13 (1) VOBK wird in Kapitel V.A.4.4. "Zweite Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen nach Einreichung der Beschwerdebegründung oder Erwiderung – Artikel 13 (1) VOBK" dargestellt.
Gemäß Art. 13 (2) VOBK (in ihrer 2023 geänderten und am 1. Januar 2024 in Kraft getretenen Fassung) bleiben Änderungen des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten in einem vorgerückten Verfahrensstadium (nämlich nach Ablauf einer von der Kammer in einer Mitteilung nach R. 100 (2) EPÜ bestimmten Frist oder nach Zustellung einer Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK) grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen. Nach der früheren Fassung von Art. 13 (2) VOBK wurde die dritte Stufe des Konvergenzansatzes durch die Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung ausgelöst. Die Rechtsprechung zu beiden Fassungen wird in Kapitel V.A.4.5. "Dritte Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen nach Zustellung der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK oder Ablauf der in einer Regel 100 (2) EPÜ-Mitteilung gesetzten Frist – Artikel 13 (2) VOBK" dargestellt.
Die gerade genannten Bestimmungen implementieren den Konvergenzansatz, wonach die Beteiligten mit zunehmendem Fortschreiten des Beschwerdeverfahrens immer weniger Möglichkeiten zur Änderung ihres Vorbringens erhalten (siehe z. B. T 1370/15, T 2778/17. Die Beteiligten müssen ihre Änderungen kennzeichnen, rechtfertigende Gründe für die Änderungen angeben und Gründe dafür, weshalb diese nicht in einem früheren Verfahrensstadium eingereicht wurden. Diese Bestimmungen sind, wenn die jeweiligen Voraussetzungen erfüllt sind, kumulativ anwendbar. Siehe das nachfolgende Kapitel V.A.4.1.2 "Vorrangiges Ziel des Beschwerdeverfahrens und Konvergenzansatz hinsichtlich Änderungen des Beteiligtenvorbringens".