4.4.5 Ermessen nach Artikel 13 (1) VOBK – neue Anträge
Wie in Kapitel V.A.4.4.4 dargelegt, obliegt es einer Partei, jede Änderung ihres Vorbringens zu erläutern und zu begründen. Dabei gilt es aufzuzeigen, dass die Änderung einer Patentanmeldung oder eines Patents prima facie die von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren oder von der Kammer aufgeworfenen Fragen ausräumt und keinen Anlass zu neuen Einwänden gibt.
(i) Antrag räumt Einwand nicht prima facie aus
In der Sache T 1187/15 (in der Art. 13 (2) VOBK gemäß Art. 25 (3) VOBK noch nicht anzuwenden war) berücksichtigte die Kammer bei der Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (1) VOBK, ob der Beschwerdeführer (Anmelder) aufgezeigt hatte, dass die Änderungen prima facie die von der Kammer aufgeworfenen Fragen ausräumen und keinen Anlass zu neuen Einwänden geben. Die Kammer merkte an, dass dieser Punkt auch ein Schlüsselkriterium war, das in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zur Ausübung des Ermessens einer Kammer nach Art. 13 (1) VOBK 2007 entwickelt worden war (RBK, 9. Aufl. 2019, V.A.4.4.2). Art. 13 VOBK 2007 war auch auf den vorliegenden Fall anwendbar (Art. 25 (3) VOBK). Die Kammer stellte fest, dass der Hilfsantrag XI prima facie die Einwände nach Art. 123 (2) EPÜ nicht ausräumte, da das Weglassen bestimmter Merkmale eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung darstellte. In Anbetracht dessen und der Tatsache, dass der Beschwerdeführer Gelegenheit gehabt hatte, auf die von der Kammer von Amts wegen aufgeworfenen Fragen zu reagieren, übte die Kammer ihr Ermessen aus, den Hilfsantrag XI nicht zum Verfahren zuzulassen. Darüber hinaus wies die Kammer den Antrag des Beschwerdeführers auf eine weitere Unterbrechung zur Vorbereitung eines weiteren Antrags zurück, der den Hilfsantrag XI ersetzen würde. Es sei mit dem Grundsatz der Verfahrensökonomie nicht vereinbar, die mündliche Verhandlung so durchzuführen, dass dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben werde, wiederholt neue Anträge zu stellen, bis eine für die Kammer annehmbare Fassung der Ansprüche gefunden werde.
In T 1338/16 (wo Art. 13 (2) VOBK noch nicht anzuwenden war) kam die Kammer angesichts des Vorbringens des Beschwerdeführers zu dem Schluss, dass die Änderungen im Hauptantrag und in den Hilfsanträgen 1 bis 3 vorrangig darauf gerichtet waren, die Einwände im Hinblick auf die Erweiterung des Gegenstands, Klarheit und Stützung auszuräumen, jedoch prima facie die Einwände der Kammer gegen die Patentierbarkeit nach Art. 54 und 56 EPÜ nicht ausräumten. Deshalb machte die Kammer von ihrem Ermessen nach Art. 13 (1) VOBK Gebrauch, diese Anträge im Verfahren nicht zuzulassen.
Auch in T 700/15 kam die Kammer (bezüglich der Anträge 1', 1'0, 1'a, etc.) zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer (Patentinhaber) nicht im Sinne von Art. 13 (1) VOBK aufgezeigt hatte, dass die Änderung in den Hilfsanträgen prima facie von der Kammer aufgeworfene Fragen ausräumte.
Weitere Entscheidungen zum Erfordernis der Angabe von Gründen, warum die erhobenen Einwände ausgeräumt werden, sind in Kapitel V.A.4.4.4 c) "Erfordernis der Substantiierung der Änderung einer Patentanmeldung oder eines Patents" aufgeführt.
(ii) Anspruchsänderungen, die prima facie Anlass zu neuen Einwänden geben
In T 700/15 hatte die Kammer Bedenken im Hinblick auf die Vereinbarkeit des jeweiligen Anspruchs 1 der infrage stehenden Hilfsanträge (0, 10, 1a0, etc.) mit Art. 123 (2) und 84 EPÜ. Dieser Anspruch enthielt ein Merkmal, das das der Anmeldung zugrunde gelegte angestrebte Ergebnis betraf. Da die Änderungen im jeweiligen Anspruch 1 dieser Hilfsanträge nach Ansicht der Kammer zumindest prima facie Anlass zu neuen Einwänden gaben, übte die Kammer ihr Ermessen nach Art. 13 (1) VOBK dahingehend aus, die betreffenden Hilfsanträge nicht zuzulassen.
Auch in T 136/16 übte die Kammer ihr Ermessen dahingehend aus, die beiden anhängigen Hilfsanträge nicht zuzulassen, unter anderem weil bei Hilfsantrag 1 die vorgenommene Änderung prima facie zu einem neuen Einwand nach Art. 84 EPÜ führte. Zudem war die Kammer der Auffassung, dass die Änderung bereits in einem früheren Stadium des Beschwerdeverfahrens hätte erfolgen können und müssen.
In T 2257/19 stellte die Kammer fest, dass eine unentrinnbare Falle die Zulassung neuer Anträge nach Art. 13 (1) und (2) VOBK grundsätzlich ausschloss, da die Erfordernisse von Art. 123 (2) und (3) EPÜ nicht beide erfüllt werden können.
(iii) Anspruchsänderungen, die die Einwände ausräumen
In der Sache T 851/18 vom 10.01.2020 date: 2020-01-10 (in der gemäß Art. 25 (3) VOBK die Fassung von 2020 des Art. 13 (1) VOBK, nicht aber des Art. 13 (2) VOBK anzuwenden war) unterschied sich der während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichteHilfsantrag von den Ansprüchen, mit denen das Patent von der Einspruchsabteilung aufrechterhalten worden war, in zwei Punkten: Zum einen kombinierte Anspruch 1 des Hilfsantrags den Gegenstand der Ansprüche 1 und 3 wie aufrechterhalten. Zum anderen wurde erstmals der Gegenstand des Anspruchs 3 auch in den zweiten unabhängigen Anspruch 7 aufgenommen. Die Kammer war der Auffassung, dass beide Änderungen wenig komplex waren, keine neuen Fragen aufwarfen und sachdienlich waren. Die Kammer sah daher trotz des späten Verfahrensstadiums keinen Grund, den Hilfsantrag nicht in das Verfahren zuzulassen. Die Aufnahme der Merkmale von Anspruch 3 wie aufrechterhalten in Anspruch 1 entsprach in der Sache einer Streichung des breiteren Anspruchs 1 wie aufrechterhalten und trug sämtlichen Einwänden in verfahrensökonomischer Art und Weise Rechnung. Anspruch 3 wie aufrechterhalten war zudem im bisherigen Verfahren nicht angegriffen worden. Die zweite Änderung behob in offensichtlicher Weise einen von der Kammer in der Verhandlung geäußerten Einwand gegen die Neuheit des Anspruchs 7.
In T 2044/20 hielt es die Kammer für ausreichend, dass alle in der angefochtenen Entscheidung genannten Gründe ausgeräumt wurden. Die Einreichung des Hilfsantrags 1 als Reaktion auf die Beschwerdeerwiderung wurde als angemessene Reaktion des Beschwerdeführers auf den Verlauf des Einspruchsverfahrens angesehen, in dem sich der Beschwerdeführer in einer sogenannten unentrinnbaren Falle wiedergefunden hatte, in der es nach Feststellung der Kammer in der Regel nicht offensichtlich ist, wie ein Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ auszuräumen ist. Die weiteren Einspruchsgründe nach Art. 100 a) und b) EPÜ waren im Einspruchsverfahren nicht abschließend erörtert worden.
In mehreren Entscheidungen, die sich mit verspätet eingereichten Anträgen befassten, in denen bestimmte Ansprüche gestrichen worden waren, ließen die Kammern die Anträge unter anderem deshalb zu, weil sie für prima facie gewährbar befunden wurden. In T 1597/16 vertrat die Kammer beispielsweise die Auffassung, dass durch den neuen Antrag kein anderer sachlicher oder patentrechtlicher Streitgegenstand entstanden war, dass der Einsprechende somit reagieren konnte und dass der Antrag prima facie gewährbar war, weil er alle verbleibenden Einwände auszuräumen schien, ohne neue Fragen aufzuwerfen.