4.4.5 Ermessen nach Artikel 13 (1) VOBK – neue Anträge
Die Frage, ob Anträge früher hätten eingereicht werden müssen, ist ein wichtiges Kriterium für die Ausübung des Ermessens nach Art. 13 (1) VOBK (siehe auch Kapitel V.A.4.4.4 b) zum Erfordernis, dass der Beteiligte Gründe dafür angeben muss, weshalb er die Änderung erst in dieser Phase des Verfahrens einreicht; einige Entscheidungen verweisen auch auf Art. 12 (6) Satz 2 VOBK, der auf der zweiten Stufe des Konvergenzansatzes entsprechend gilt (Art. 13 (1) Satz 2 VOBK, siehe z. B. T 938/20).
(i) Reaktion auf einen von der Einspruchsabteilung nicht als kritisch angesehenen Einwand – hohe Anzahl von Einwänden
In T 938/20 wurde der neue Hauptantrag des Beschwerdeführers (Patentinhabers), der kurz vor der Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung als Hilfsantrag 105 eingereicht worden war, als angemessene Reaktion auf den Einwand des Einsprechenden 2 nach Art. 83 EPÜ in der Beschwerdeerwiderung angesehen. Dieser Einwand war bereits in der Einspruchsschrift erhoben worden, wurde aber offenbar in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung nicht erörtert (obwohl er auch auf einen damals strittigen Antrag anwendbar gewesen wäre). Die Kammer merkte an, dass der Antrag vor der Einspruchsabteilung hätte eingereicht werden können, berücksichtigte aber die Gesamtzahl der von den Einsprechenden im Einspruchsverfahren erhobenen Einwände und die Tatsache, dass es offenbar keinen klaren Hinweis darauf gab, dass er zusätzlich zu den zahlreichen vor der Einspruchsabteilung eingereichten Anträgen hätte eingereicht werden müssen, da die Einspruchsabteilung diesen Einwand offenbar nicht als entscheidend für die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ ansah. Es gab somit keinen Grund, ihn in Bezug auf Art. 12 (6) VOBK nicht zuzulassen.
(ii) Reaktion auf neue Einwände des anderen Beteiligten
In T 131/18 prüfte die Kammer zunächst hypothetisch die Zulassung des in Reaktion auf die Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsantrags 3, da der infrage stehende neue Hilfsantrag 6 von zwei Änderungen abgesehen wörtlich und inhaltlich identisch mit diesem war. Die Kammer hielt Hilfsantrag 3 aus folgenden Gründen für zulässig: Mit seinem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hauptantrag hatte sich der Beschwerdeführer (Patentinhaber) zunächst bemüht, den in der angefochtenen Entscheidung aufgezeigten Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ zu beheben. Wie vom Beschwerdeführer dargelegt, reagierte er mit weiteren geringfügigen Änderungen in Hilfsantrag 3 lediglich auf in der Beschwerdeerwiderung gegen diesen Hauptantrag unter Art. 123 (2), 83 und 84 EPÜ erhobene zusätzliche Einwände. Der Hilfsantrag 3 wurde auch nicht so spät eingereicht, dass der Beschwerdegegner (Einsprechende) nicht mehr darauf hätte reagieren können. Die Kammer gelangte zur Auffassung, dass durch die Änderungen die bekannten Probleme überwunden worden seien. Neue, durch die Änderungen hervorgerufene Probleme stellte sie nicht fest. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass sie Hilfsantrag 3 in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (1) VOBK zum Verfahren zugelassen hätte. Auch die gegenüber Hilfsantrag 3 zur Beseitigung von Widersprüchen vorgenommenen redaktionellen Anpassungen im Hilfsantrag 6 wurden nach Art. 13 (2) VOBK zugelassen (s. unten Kapitel V.A.4.5.4 n)).
In T 524/18 erachtete die Kammer die Einreichung des Hilfsantrags B1 als legitime und rechtzeitige Reaktion auf die Einreichung von Versuchsberichten mit der Beschwerdeerwiderung, wobei die Versuchsberichte neue Daten zur Stärkung der Position des Beschwerdegegners enthielten.
(iii) Reaktion auf die Klarstellung von Einwänden
In T 32/16 ging es um die Gründe des Beschwerdegegners, den fraglichen Antrag erst in Reaktion auf die vorläufige Einschätzung der Kammer zu stellen (Art. 13 (1) VOBK anstelle von Art. 13 (2) VOBK noch anwendbar). Die Kammer hob die besonderen Umstände des vorliegenden Falls hervor, wo sich erstmals in der Mitteilung der Kammer herauskristallisiert hatte, was die Kammer selbst aus der umfangreichen Argumentation des Beschwerdeführers zu seinen Einwänden nach Art. 100 (c) EPÜ als relevante Elemente herausgearbeitet hatte. Ungeachtet der Aussage des Beschwerdeführers, dass seine Argumentation schon immer so zu verstehen gewesen sei, wie von der Kammer herausgearbeitet, war die Kammer der Auffassung, dass seine Erklärung so verstanden werden könnte, dass das wesentliche Argument darin zum ersten Mal erkennbar war. Sie stellte weiter fest, dass der Beschwerdegegner seinen geänderten Antrag an dem Tag eingereicht hatte, an dem er die vorläufige Einschätzung der Kammer erhalten hatte.
(iv) Weitere Beispiele, in denen die Reaktion als rechtzeitig und legitim angesehen wurde – Inter-partes-Fälle
Für weitere Inter-partes-Fälle, in denen die Kammern neue Anträge zuließen, die als rechtzeitige und legitime Reaktion angesehen wurden, siehe z. B. T 32/16 (zusammengefasst in Kapitel V.A.4.4.5 d)), T 2101/16 (gerechtfertigte Reaktion auf Klarstellung von in Beschwerdebegründung erhobenem Einwand nach Art. 83 EPÜ), T 102/16 (erstmals in der vorläufigen Einschätzung der Kammer erhobene Einwände gegen die erfinderische Tätigkeit, im Wesentlichen eine Kombination von zwei Ansprüchen des erteilten Patents, keine Verlegung notwendig).
(v) Beispiele, in denen die Reaktion als rechtzeitig und legitim angesehen wurde – Ex-parte-Fälle
Im Ex-parte-Fall T 278/17 waren die Änderungen im (einzigen) Anspruch des Hauptantrags eine Reaktion auf Fragestellungen, die von der Kammer erstmals während eines Telefongesprächs bezüglich Hilfsantrag 2 aufgeworfen wurden. Hilfsantrag 2 wiederum war ein ernsthafter Versuch, alle – überwiegend erstmals – in der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK 2007 aufgeworfenen Fragestellungen zu behandeln. Da die Änderungen auf alle im Telefongespräch und der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK 2007 erhobenen Einwände gerichtet waren und diese klar ausräumten, ließ die Kammer den neuen Hauptantrag unter Berücksichtigung von Art. 13 (1) VOBK und Art. 13 (1) und (3) VOBK 2007 zu.
Ein weiterer Ex-parte-Fall ist T 2129/16 (Antrag räumte den erstmals in der vorläufigen Einschätzung der Kammer erhobenen Klarheitseinwand klar aus).
(vi) Reaktion auf eine die Einschätzung der Einspruchsabteilung oder des Einsprechenden bestätigende Mitteilung der Kammer
In T 136/16 übte die Kammer unter Berücksichtigung der in Art. 13 (1) VOBK aufgeführten Kriterien – die gemäß Art. 25 (3) VOBK in diesem Fall anstelle von Art. 13 (2) VOBK galten – ihr Ermessen dahin gehend aus, den Hilfsantrag 1 nicht zuzulassen. Zum einen führte die vorgenommene Änderung prima facie zu einem neuen Einwand nach Art. 84 EPÜ. Zum anderen hätte diese Änderung nach Auffassung der Kammer bereits in einem früheren Stadium des Beschwerdeverfahrens erfolgen können und müssen. Bereits die Einspruchsabteilung hatte in der angefochtenen Entscheidung auf die zentrale Bedeutung der Auslegung eines streitigen Begriffs im Anspruch hingewiesen. Während die Einspruchsabteilung diesen Begriff eingeschränkt im Sinne des Absatzes 7 der Beschreibung verstanden hatte, hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) in der Beschwerdebegründung dieser engen Auslegung anhand anderer Passagen der Beschreibung detailliert widersprochen. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) hätte also bereits mit seiner Erwiderung Anlass gehabt, die vorgenommene Änderung durchzuführen, die auf dem zuvor umfänglich diskutierten Sachverhalt beruhte. Auch das Argument, dass die Vielzahl der vorgetragenen Angriffe ohne eine vorläufige Beurteilung der Kammer der Formulierung sinnvoller Hilfsanträge entgegengestanden hätte, überzeugte die Kammer im Hinblick auf die zentrale Bedeutung der Auslegung des betreffenden Begriffs in nahezu allen vorgetragenen Einwänden nicht.
In T 1004/18 hob die Kammer hervor, dass der Beschwerdegegner (Patentinhaber) bereits aufgrund der Beschwerdebegründung damit rechnen musste, dass die Kammer entweder der Linie der Einspruchsabteilung oder derjenigen des Beschwerdeführers folgen würde, und somit die Formulierung von Hilfsanträgen als Rückzugposition bereits mit der Beschwerdeerwiderung hätte einreichen müssen. Die Kammer ließ den betreffenden Hilfsantrag daher nicht zu.
Ebenso befand die Kammer in T 700/15, dass eine Mitteilung der Kammer, in der nur die bereits von der Einspruchsabteilung in der angegriffenen Entscheidung und vom Einsprechenden in seiner Beschwedreerwiderung vertretene Auslegung zusammengefasst und wiedergegeben wurden, nicht aber neue Aspekte oder Argumente angeführt oder ein neuer Einwand erhoben werden, nicht als Rechtfertigung für die Einreichung neuer Hilfsanträge dienen kann, die schon früher hätten eingereicht werden können (mit Verweis auf RBK, 9. Aufl. 2019, V.A.4.7). Die Anträge wurden nicht zugelassen.
Zu einem weiteren Fall, in dem der neue Antrag nicht zugelassen wurde, weil die den Schlussfolgerungen der Kammer zugrunde liegenden Fragen bereits in der angefochtenen Entscheidung aufgeworfen worden waren, siehe T 1384/16.
Ein weiterer Fall, bei dem ein Einwand seit der Einreichung der Beschwerdebegründung in der Akte war und neue Anträge in Reaktion auf eine Erklärung der Kammer, in der dieser Einwand bekräftigt wurde, nach Art. 13 (1) VOBK nicht zugelassen wurden, ist z. B. T 1170/16.
Zu einem Fall, in dem der neue Antrag als verspätet angesehen wurde, weil die Einwände, die damit ausgeräumt werden sollten, von Anfang an Teil des Beschwerdeverfahrens waren, der Antrag aber dennoch im Hinblick auf andere Ermessenskriterien zugelassen wurde, siehe T 1597/16.