4.4.6 Ermessen nach Artikel 13 (1) VOBK – neue Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel
(i) Keine hinreichende Rechtfertigung für verspätetes Vorbringen
Wie in T 731/16 (mit Verweis auf RBK, 9. Aufl. 2019, V.A.4.13.2) festgestellt, ist nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ein entscheidendes Kriterium für die Zulassung von verspätet eingereichten Entgegenhaltungen deren Prima-facie-Relevanz. Derartige Unterlagen sollten prima facie insofern hoch relevant sein, als sie höchstwahrscheinlich der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen.
In vielen Entscheidungen, in denen die überarbeitete Fassung (2020) von Art. 13 (1) VOBK angewandt wurde, haben die Kammern darauf hingewiesen, dass neben den aufgeführten Kriterien weitere entscheidende Kriterien für die Zulassung verspätet eingereichter Dokumente ihre Prima-facie-Relevanz und die Frage, ob sie einen komplexen Sachverhalt einführen, sein können (siehe T 1213/19 date: 2022-09-23, unter Verweis auf T 731/16, T 2796/17 und T 310/18; zur gegenteiligen Auffassung siehe T 1684/17, in der die Kammer feststellt, dass die Prima-facie-Relevanz in Art. 13 (1) VOBK keine Erwähnung findet). In T 361/19 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die Zulassung eines verspätet eingereichten, aber prima facie neuheitsschädlichen Dokuments grundsätzlich unter Art. 114 EPÜ und auch unter Art. 13 (1) VOBK fällt. Nach Ansicht der Kammer lassen diese Bestimmungen der Kammer einen ausreichenden Ermessensspielraum für die Zulassung solcher Dokumente. Zahlreiche Entscheidungen zeigen jedoch, dass dieser Aspekt zwar berücksichtigt wird, aber nicht unbedingt Vorrang hat vor anderen Kriterien, insbesondere dem Einreichungszeitpunkt (siehe z. B. T 361/19, T 1203/16, T 1333/20).
In T 1203/16 reichte der Beschwerdeführer (Einsprechende) in Reaktion auf die vorläufige Einschätzung der Kammer neue Angriffslinien basierend auf einem bereits im Einspruchsverfahren berücksichtigten Dokument und zudem einen neuen Neuheitseinwand basierend auf einem neuen Dokument ein. Als Rechtfertigung für diese späten Änderungen an seinem Vorbringen führte der Beschwerdeführer lediglich an, dass die neuen Angriffslinien relevant seien, um die Patentierbarkeit des angefochtenen Patents zu beurteilen und um die Aufrechterhaltung eines Patents zu verhindern, das die Erfordernisse des EPÜ nicht erfülle. Die Kammer betonte, dass eine solche Rechtfertigung nicht ausreichend sei. Diese neuen Angriffslinien hätten davor eingebracht werden können und müssen. Die Kammer unterstrich das Leitprinzip der VOBK, wonach in Beschwerdeverfahren das Vorbringen der Beteiligten sehr frühzeitig vollständig sein sollte. Sie entschied daher in Ausübung ihres Ermessens, die neuen Angriffslinien und das entsprechende Dokument nach Art. 12 (4) VOBK 2007, Art. 13 (1) VOBK sowie Art. 13 (1) und (3) VOBK 2007 nicht ins Verfahren zuzulassen.
(ii) Beispiele, in denen die Prima-facie-Relevanz geprüft und das verspätete Vorbringen berücksichtigt wurde
In T 1213/19 date: 2022-09-23 rechtfertigte der Beschwerdeführer (Einsprechende) die verspätete Einreichung von D8 mehr als sechs Monate nach Einreichung der Beschwerdebegründung damit, dass es zufällig bei einer Recherche zu einem anderen Patent gefunden worden sei. Nach Ansicht der Kammer hätte das Dokument früher gefunden werden können, da es auf demselben technischen Gebiet wie das Patent lag, fünf Jahre vor Ablauf der Einspruchsfrist veröffentlicht worden war und im Prüfungsverfahren einer Teilanmeldung, die von der europäischen Patentanmeldung, auf die sich das Patent stützte, abgeleitet worden war, von entscheidender Bedeutung gewesen zu sein schien. Die Kammer wog diese Aspekte jedoch gegen die Erwägungen ab, dass der Beschwerdegegner mit dem Inhalt dieses Dokuments vertraut gewesen sein musste und dass auf den ersten Blick zu erwarten war, dass D8 der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen würde. In Anbetracht dessen übte die Kammer ihr Ermessen dahingehend aus, das Dokument D8 zuzulassen.
Für einen weiteren Fall, in dem neben anderen Kriterien die Prima-facie-Relevanz berücksichtigt und das entsprechende Vorbringen zugelassen wurde, siehe z. B. T 34/18 (Prima-facie-Relevanz von Beweismitteln, die eine öffentliche Vorbenutzung widerlegen, zusammengefasst in Kapitel V.A.4.4.6 a) (xi)).
(iii) Beispiel, in dem die Prima-facie-Relevanz keinen Vorgang gegenüber anderen Kriterien hatte
In T 1333/20 entschied die Kammer, dass im vorliegenden Fall die behauptete Relevanz des neuen Vorbringens (Einwände gemäß Art. 123 (2) EPÜ) keinen Vorrang gegenüber der Tatsache hatte, dass der Beschwerdegegner dieses mit seinem Beschwerdevorbringen, d. h. im vorliegenden Fall mit seiner Beschwerdeerwiderung, hätte substantiiert darlegen können und müssen (Art. 12 (3) VOBK).
(iv) Beispiele, in denen ein verspätetes Vorbringen wegen mangelnder Prima-facie-Relevanz als unzulässig zurückgewiesen wurde
In T 731/16 war die Entgegenhaltung D12 erst in Reaktion auf die Mitteilung der Kammer nach Art. 15 (1) VOBK 2007 eingereicht worden. Nach Auffassung der Kammer konnte von einer für die Fachperson selbstverständlichen Kombination der Lehren der bereits im Verfahren befindlichen Entgegenhaltung D4 und der neu eingereichten D12 keine Rede sein. Daher war D12 kein hoch relevanter Stand der Technik und wurde nicht in das Verfahren zugelassen.
In T 2796/17 war Prima-facie-Relevanz eines von mehreren Kriterien, die die Kammer bei ihrer Ermessensausübung heranzog (Art. 13 (1) VOBK 2007, Art. 25 (1) VOBK und Art. 13 VOBK 2007, Art. 25 (3) VOBK). Das neue Vorbringen (ein Einwand gegen die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 gestützt auf eine Kombination zweier mit der Einspruchsbegründung eingereichter Dokumente) erschien der Kammer nicht prima facie relevant, da der Beschwerdeführer (Einsprechende) weder substantiiert dargelegt hatte, warum die Fachperson ausgehend vom behaupteten nächsten Stand der Technik das zweite angeführte Dokument (ohne Rückschau) zu Rate ziehen würde, noch dass letzteres dann die hinzugefügten Merkmale des neuen Hauptantrags offenbaren würde. Der vom Beschwerdeführer ohne Rechtfertigung erstmals in der mündlichen Verhandlung erhobene Einwand, der außerdem einen komplexen neuen Sachverhalt beinhaltete, wurde nicht zugelassen.
Für weitere Fälle, bei denen die (Prima-facie-)Relevanz geprüft und nicht bejaht wurde, siehe z. B. T 102/16 (betreffend D26), T 1877/16 (betreffend D20 und D21).