4.5.1 Grundsätze
In mehreren Entscheidungen haben die Kammern die Frage erörtert, wie der Begriff "grundsätzlich" in Art. 13 (2) VOBK auszulegen ist.
In T 1294/16 (s. auch die Zusammenfassung in Kapitel V.A.4.5.1 e)) verwarf die Kammer die Möglichkeit, dass mit diesem Begriff ein Rest Ermessensspielraum für sie bewahrt werden sollte, einen Antrag auch dann zuzulassen, wenn keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen (oder wenn keine stichhaltigen Gründe für deren Vorliegen aufgezeigt werden), und kam zu dem Schluss, dass dieser Begriff außer Acht gelassen werden sollte. In T 2125/18 betonte die Kammer, dass der Begriff "grundsätzlich" nicht so verstanden werden darf, dass er einfach dann angewendet werden kann, wenn die Kammer es für angebracht hält. Unter Verweis auf den Konvergenzansatz hielt die Kammer fest, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen müssen, damit die Kammer eine Änderung des Beschwerdevorbringens berücksichtigen kann. Im gleichen Sinne erklärte die Kammer in T 2920/18, dass der in Art. 13 (2) VOBK verankerte Grundsatz eben genau sei, dass Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten in diesem späten Stadium des Verfahrens ("grundsätzlich") unberücksichtigt bleiben. Die Ausnahme von diesem Grundsatz folge dann im durch "es sei denn" eingeleiteten Nebensatz.
In T 172/17 befand die Kammer jedoch, dass Art. 13 (2) VOBK nicht das Ermessen einer Kammer aufhebt, eine Änderung des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten zuzulassen. Die in "bleiben [...] unberücksichtigt" ausgedrückte Regelung werde durch "grundsätzlich" eingeschränkt, und es liege auch bei der Kammer zu beurteilen, ob "außergewöhnliche Umstände" vorliegen. Die Kammer verwies in diesem Zusammenhang auf Art. 114 EPÜ und auf die Erläuterungen zu Art. 13 (2) VOBK (siehe Zusatzpublikation 2, ABl. 2020, 33), wonach die Kammer die Änderung "in Ausübung ihres Ermessens" zulassen kann. Mit Verweis auf T 172/17 erklärte die Kammer in T 574/17, dass eine Kammer sich bei der Anwendung von Art. 13 (2) VOBK auch auf die in Art. 13 (1) VOBK genannten Kriterien stützen kann. Dies sei Teil der Ermessensausübung der Kammer nach Art. 13 (2) VOBK. Dieser Ermessensspielraum sei der Beurteilung inhärent, ob "außergewöhnliche Umstände" vorliegen, und werde ferner durch den Begriff "grundsätzlich" ausgedrückt. Die Kammer in T 424/21 interpretierte die Formulierung "bleiben grundsätzlich unberücksichtigt" in Art. 13 (2) VOBK ähnlich, nämlich dass sie der Kammer einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der vorgebrachten außergewöhnlichen Umstände lässt. Eine sinnvolle Anwendung dieses Ermessensspielraums scheine besonders in technischen Bereichen wichtig zu sein, in denen Patente zahlreiche abhängige Ansprüche enthalten.