4.5.1 Grundsätze
Nach einer Rechtsprechungslinie betreffen "außergewöhnliche Umstände" im Sinne von Art. 13 (2) VOBK im Allgemeinen neue oder unvorhergesehene Entwicklungen im Beschwerdeverfahren wie neue Einwände der Kammer oder eines anderen Beteiligten (z. B. T 1702/18, siehe auch T 1780/19), während Umstände außerhalb des Beschwerdeverfahrens (z. B. T 2329/15, T 1583/21, T 2482/22) oder der normale Verfahrensverlauf (T 1870/15, T 2214/15, T 2271/17, T 24/18, T 1436/19, T 1959/19, T 599/21) eine verspätete Einreichung nicht rechtfertigen können. Siehe auch T 1558/22 und T 2124/21 für Umstände, die im Verantwortungsbereich des einreichenden Beteiligten liegen.
Daher wurden außergewöhnliche Umstände beispielsweise anerkannt, wenn die Einreichung neuer Anträge eine gerechtfertigte und fristgerechte Erwiderung auf einen von der Kammer erhobenen neuen Einwand (in ihrer Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK, siehe z. B. T 2306/17, T 1255/18, T 974/20, oder in der mündlichen Verhandlung, s. z. B. T 1561/15) darstellte. Neuer Einwand bedeutet in diesem Zusammenhang, dass dieser nicht unter die zuvor von der Kammer oder von einem Beteiligten erhobenen Einwände fällt (T 2610/16, T 42/17).
Wenn hingegen ein Einwand bereits von der erstinstanzlichen Abteilung oder einem Beteiligten erhoben worden war, wurden das Erheben dieser Einwände durch die Kammer (z. B. T 1187/16; auch im Falle einer Meinungsänderung der Kammer, z. B. T 752/16, T 995/18) oder von Einwänden, die lediglich eine Präzisierung oder Weiterentwicklung des ursprünglich erhobenen Einwands darstellten (z. B. T 2539/16, T 1080/15), oder von Einwänden gegen erfolglose Versuche, bereits erhobene Einwände auszuräumen (T 2214/15) als normale Entwicklung des Beschwerdeverfahrens angesehen und konnte daher die Einreichung neuer Anträge nicht rechtfertigen.
In anderen Entscheidungen, insbesondere zur Streichung von Anspruchskategorien, kamen die Kammern jedoch zu dem Schluss, dass der Begriff "außergewöhnlich" breiter ausgelegt werden kann:
In T 1294/16 stellte die Kammer beispielsweise fest, dass das in den Erläuterungen in CA/3/19 angeführte Beispiel für außergewöhnliche Umstände (nämlich ein von der Kammer erhobener neuer Einwand) nahelegt, dass die Außergewöhnlichkeit nicht notwendigerweise damit verknüpft ist, dass Ereignisse in dem Sinne außergewöhnlich sind, dass sie nicht den Erwartungen entsprechen, sondern auch durch Erwägungen bezüglich des Rechtsrahmens. Da die vorrangige Motivation für den "Konvergenzansatz" die Verfahrensökonomie des Beschwerdeverfahrens sei, sei es angemessen zu akzeptieren, dass "außergewöhnliche Umstände" vorliegen, wenn die Zulassung eines (verspätet eingereichten) Vorbringens der Verfahrensökonomie nicht abträglich ist und sofern dies keine nachteiligen Auswirkungen für die anderen Beteiligten hat. Siehe auch z. B. T 1598/18 (derselben Kammer, Inter-partes-Verfahren) und T 2920/18 (Inter-partes-Verfahren), in denen die Kammer zustimmte, dass außergewöhnliche Umstände rechtlicher Natur sein können.
Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung für eine breitere Auslegung des Begriffs "außergewöhnliche Umstände", die Fällen Rechnung trägt, in denen die Verfahrensökonomie und die Rechte der Verfahrensbeteiligten gewahrt werden, sind T 713/14, T 101/18, T 545/18, T 1968/18, T 339/19, T 2111/19. Siehe auch die in Kapitel V.A.4.5.1 d) oben und in V.A.4.5.4 k) aufgeführten Entscheidungen, die sich insbesondere mit Anträgen befassen, in denen Ansprüche oder Anspruchsalternativen gestrichen wurden.
In T 2352/19 hielt die Kammer fest, dass der Begriff "außergewöhnliche Umstände" im Lichte der dem EPÜ und der VOBK zugrunde liegenden Grundsätze auszulegen sei. Daraus leitete die Kammer ab, dass außergewöhnliche Umstände die Zulassung eines neuen Antrags, der als Reaktion auf einen von der Kammer aufgeworfenen neuen Aspekt eingereicht wurde, nur dann rechtfertigen können, wenn dieser Aspekt letztlich für die endgültige Entscheidung der Kammer von Bedeutung ist. Andernfalls sei der Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör nicht betroffen und es gäbe keinen Grund für die Anwendung von Ausnahmen