4.5.4 Zulassung neuer Anträge
Während die Kammern in zahlreichen Entscheidungen befanden, dass ein Kausalzusammenhang zwischen den "außergewöhnlichen Umständen" und dem Zeitpunkt der Einreichung neuer Eingaben im Verfahren notwendig ist (z. B. T 2463/16, T 2486/16) bzw. dass diese "außergewöhnlichen Umstände" die Einreichung neuer Eingaben erst in einem späten Verfahrensstadium rechtfertigen müssen (z. B. T 1904/16, T 1590/19, T 2795/19), legten die Kammern in zahlreichen anderen Entscheidungen das Aufzeigen "stichhaltiger Gründe" für das Vorliegen "außergewöhnlicher Umstände" breiter aus. In T 339/19 erklärte die Kammer, dass es im Einzelfall der entscheidenden Kammer obliege, den Anspruch auf rechtliches Gehör gegen das öffentliche Interesse an zeitnaher Rechtsprechung abzuwägen. In diesem Sinne wurden in zahlreichen Entscheidungen "außergewöhnliche Umstände" als Umstände angesehen, in denen durch die Zulassung weder die Verfahrensrechte einer anderen Partei (bzw. der anderen Parteien in Inter-partes-Verfahren) noch die Verfahrensökonomie beeinträchtigt werden (s. z. B. T 1294/16, T 101/18, T 1290/18, T 1598/18, T 2920/18, T 339/19 und T 2465/19). Für einen Überblick über die Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs "außergewöhnliche Umstände" und allgemeiner über die unterschiedlichen Ansätze zur Auslegung von Art. 13 (2) RPBA siehe Kapitel V.A.4.5.1.
Viele der Entscheidungen, die einen großzügigeren Ansatz verfolgen, betreffen Fälle, in denen eine Anspruchsalternative, abhängige Ansprüche oder eine ganze Anspruchskategorie gestrichen wurden. Mehr zu diesen Fällen siehe Kapitel V.A.4.5.4 j). Nachfolgend werden einige weitere Entscheidungen zusammengefasst, in denen die Kammern unter Anwendung dieses Ansatzes mit anderen Änderungen als Streichungen von Ansprüchen oder Anspruchsalternativen befasst waren.
Im Ex-parte-Verfahren T 1294/16 stellte die Kammer fest, dass das in den Erläuterungen angeführte Beispiel für außergewöhnliche Umstände (nämlich ein von der Kammer erhobener neuer Einwand) nahelegt, dass Außergewöhnlichkeit nicht zwangsläufig damit verknüpft sei, dass Ereignisse in dem Sinne außergewöhnlich seien, dass sie nicht den Erwartungen entsprächen, sondern auch durch Erwägungen bezüglich des Rechtsrahmens, nämlich der Grundsätze der VOBK, bedingt sein könnten. Art. 12 und 13 VOBK setzten den "Konvergenzansatz" um, wofür die Verfahrensökonomie des Beschwerdeverfahrens die vorrangige Motivation war. Daraus leitete die Kammer ab, dass es, wenn die Zulassung (verspäteter) Vorbringen nicht die Verfahrensökonomie beeinträchtigt, angemessen sei zu akzeptieren, dass "außergewöhnliche Umstände" im Sinne von Art. 13 (2) VOBK vorlagen, sofern dies keine nachteiligen Auswirkungen für den anderen Beteiligten hatte. Im vorliegenden Fall ließ die Kammer die drei verspätet eingereichten Hilfsanträge zu, da sie im Ex-parte-Verfahren eingereicht worden waren und die Kammer die Änderung unverzüglich während der mündlichen Verhandlung behandeln konnte.
In T 2465/19 (ebenfalls ex parte) waren die Ansprüche und die angepasste Beschreibung (Hauptantrag) in Reaktion auf die ausdrückliche Aufforderung der Kammer in ihrem Bescheid gemäß Art. 15 (1) VOBK, entsprechende geänderte Anmeldungsunterlagen einzureichen, vorgelegt worden. Die Kammer sah die Änderungen prima facie als geeignet an, die ausstehenden Einwände auszuräumen, und ließ den Antrag gemäß Art. 13 (2) VOBK zu. Nach Auffassung der Kammer dienen Art. 12 und 13 VOBK dazu, das Aufkommen von Fragen zu verhindern, deren Behandlung durch andere Beteiligte oder die Kammer nicht im vorhersehbaren Rahmen des Beschwerdeverfahrens erwartet werden kann.
Im Inter-partes-Fall T 339/19, in dem der Beschwerdegegner in seinem neuen Hauptantrag zwei Prozentspannen durch zwei Prozentwerte ersetzte, übernahm die Kammer die Auslegung von "außergewöhnliche Umstände" aus T 1294/16 und befand, dass solche Umstände dann vorliegen, wenn weder die Verfahrensrechte der anderen Partei noch die Verfahrensökonomie beeinträchtigt werden. Der neue Hauptantrag war nach Erhalt der vorläufigen Einschätzung eingereicht worden, die keinerlei faktischen oder rechtlichen Punkte enthielt, die nicht bereits behandelt worden waren. Doch die Kammer sah darin einen gutgläubigen Versuch, den Einwand zur erfinderischen Tätigkeit gegen den vorliegenden Hauptantrag auszuräumen. Zudem warf der Antrag keine neuen Fragen auf, ließ sich innerhalb des vorgegebenen Verfahrensrahmens behandeln und stellte für den anderen Beteiligten und die Kammer keine zusätzlichen Schwierigkeiten oder Überraschungen dar.
Der Entscheidung T 1294/16 folgte auch T 2920/18, wo die Kammer hinzufügte, dass eine teleologische Interpretation des Begriffs "außergewöhnliche Umstände", die den Zweck der in den Art. 114 (2) und 123 (1) EPÜ verankerten Befugnis der Nichtberücksichtigung von spät vorgebrachten Tatsachen, Beweismitteln und Anträgen in Betracht ziehe, dieses Ergebnis zu stützen scheine. Aus den vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ 1973 (s. T 122/84, T 951/91) ergebe sich, dass diese verfahrensrechtliche Möglichkeit verhindern sollte, dass die Beteiligten das Verfahren missbräuchlich hinauszögern. Insbesondere würden dadurch die Grundsätze der Verfahrensökonomie und der Verfahrensgerechtigkeit gewahrt. Die Befugnis, verspätete Vorbringen gemäß dem EPÜ unberücksichtigt zu lassen, stelle kein Verfahrensziel an sich dar.
Im Fall T 1686/21, der eine neue bestimmte Merkmalskombination betraf, befand die Kammer ebenfalls, dass außergewöhnliche Umstände die Zulässigkeit eines erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten Antrags rechtfertigen können, selbst wenn die Änderung in Reaktion auf einen vor Langem erhobenen Einwand erfolgt. Im vorliegenden Fall konnte die Änderung, die den gegen das Patent in der aufrechterhaltenen Fassung erhobenen Einwand eindeutig ausräumte, den Beschwerdeführer der Kammer zufolge nicht derart überraschen, dass er dadurch im Beschwerdeverfahren schlechter gestellt würde. Darüber hinaus warf die Änderung keine neuen Einwände auf und war der Verfahrensökonomie nicht abträglich. Die Kammer merkte zudem an, dass angesichts der großen Zahl an unterschiedlichen Einwänden nach Art. 76 (1) EPÜ zu Beginn des Beschwerdeverfahrens eine immense Zahl an Anträgen hätte eingereicht werden müssen, um für jedes mögliche Ergebnis der Prüfung der Vereinbarkeit mit Art. 76 (1) EPÜ gewappnet zu sein, was gegen den Grundsatz der Verfahrensökonomie verstoßen hätte.
Der Fall in T 1774/17 betraf eine klarstellende Anspruchsänderung in der mündlichen Verhandlung, gegen die die Gegenpartei keinen Einwand erhob. Mit der aus einem Wort bestehenden Änderung, die einen Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ ausräumen sollte, wurde lediglich ein Merkmal deutlich gemacht, das die Einspruchsabteilung bereits in dem Antrag, der der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag, als implizit enthalten angesehen hatte. Die Kammer entschied daher, den Antrag zuzulassen. Die Zustimmung des anderen Beteiligten wurde auch in T 1294/16 als Element angeführt, das bei der Feststellung außergewöhnlicher Umstände zu berücksichtigen sei.
Zu weiteren Inter-partes-Fällen, in denen Änderungen weder die Verfahrensökonomie beeinträchtigten noch den anderen Verfahrensbeteiligten benachteiligten, siehe z. B. T 1055/17, T 732/21, T 1758/22.
Siehe jedoch auch diejenigen Entscheidungen in den Kapiteln V.A.4.5.1 d) bis V.A.4.5.1 g), in denen unter Hinweis auf den Zeitpunkt der Einreichung und die Pflicht der Beteiligten zur sorgfältigen und beförderlichen Verfahrensführung eine strengere Herangehensweise an die Auslegung von Art. 13 (2) VOBK vertreten wurde.
- T 0396/23
In T 396/23 the patent proprietor requested at the oral proceedings that the decision under appeal be set aside and that the patent be maintained on the basis of the main request or on the basis of one of the auxiliary requests 1 to 16 as filed with its statement of grounds of appeal, or auxiliary requests 17 to 20 as filed with its reply to the opponent's appeal, or auxiliary requests 21 to 40 as filed in reply to the opponent’s rejoinder, or auxiliary request 41 or 42 as filed in reply to the communication under Art. 15(1) RPBA.
At the oral proceedings the board came to the conclusion that claims 1, 2 and 3 of the main request did not meet the requirements of Art. 83 EPC. Neither did auxiliary requests 1 to 40 which contained the features at issue. The subject-matter of claim 1 of the main request was also found to lack novelty over D1.
With regard to admittance of auxiliary request 41, the board observed that, when exercising its discretion under Art. 13(2) RPBA, it may also rely on the criteria set out in Art. 13(1) RPBA.
Auxiliary request 41 corresponded to auxiliary request 18 filed with the proprietor’s reply to the opponent’s statement of grounds of appeal, but with claims 1 and 2 removed. The remaining claim of auxiliary request 18, claim 3, was based on independent claim 16 as originally filed, i.e. it had been in the proceedings as an independent claim throughout (although it comprised all of the features of another independent claim). The board underlined that, by drafting claim 3 as one of three independent claims and by presenting arguments in respect of its patentability, the proprietor had clearly indicated its intention to defend this embodiment. Hence, the filing of auxiliary request 41 did not result in a situation for which the opponent or the board were unprepared.
The board pointed out that the admittance of auxiliary request 41 did not change the legal or factual framework of the case and did not require any new substantive discussion. A claim including the restriction contained in the sole claim of auxiliary request 41 had been included in the independent claims ever since the reply to the notice of opposition. A claim including two further features at issue of the sole claim had likewise been on file since the reply to the notice of opposition and had been discussed in the written proceedings. Indeed, the submission of auxiliary request 41 merely served to remove some of the points of dispute, without introducing any new aspect to be discussed, thus improving procedural economy.
The board concluded that the admittance of auxiliary request 41 was compatible with the principles of both procedural economy and procedural fairness and did not change or add anything to the subject of the appeal proceedings. In other cases where new requests were filed that satisfied these conditions, a considerable amount of case law had concluded that there were exceptional circumstances within the meaning of Art. 13(2) RPBA justifying the admittance of the new requests (see e.g. T 2022/22 and the decisions cited therein). The board therefore decided, in view of the circumstances above, to admit auxiliary request 41 into the appeal proceedings.
Since auxiliary request 41 was found to be novel and inventive, the case was remitted to the opposition division with the order to maintain the patent on the basis of auxiliary request 41 and a description to be adapted thereto.