4.5.1 Grundsätze
Die Frage, ob der Begriff "außergewöhnliche Umstände" dergestalt auszulegen ist, dass diese Umstände für den Zeitpunkt der Einreichung ursächlich sein müssen oder, anders ausgedrückt, diesen rechtfertigen, wurde in der Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet.
(i) Entscheidungen, wonach ein kausaler Zusammenhang erforderlich ist
In T 2486/16 betonte die Kammer, dass der Beteiligte bei der Angabe seiner "stichhaltigen Gründe" nicht nur die geltend gemachten Umstände darlegen und erläutern sollte, warum sie als außergewöhnlich zu betrachten sind, sondern auch erklären sollte, warum diese Umstände direkte Auswirkungen darauf hatten, dass der Beteiligte seine Anträge nicht früher einreichen konnte (s. auch T 1707/17 von derselben Kammer, mit Hinweis auf T 1033/10). Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdeführer, der den betreffenden neuen Antrag einreichte und der der Rechtsnachfolger des ursprünglichen Anmelders war, ein Insolvenzverfahren und einen Rechtsübergang als außergewöhnliche Umstände geltend gemacht. Selbst wenn diese Schwierigkeiten, in denen sich der ursprüngliche Anmelder befunden habe, als außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 13 (2) VOBK betrachtet würden, war nach Ansicht der Kammer jedoch das Erfordernis der Herstellung eines kausalen Zusammenhangs nicht erfüllt. Der neue Beschwerdeführer habe keine Beweismittel dafür vorgelegt, dass sich der ursprüngliche Anmelder zum Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerdebegründung. S. auch T 2463/16 und T 1433/18.
Auch in T 2795/19 stellte die Kammer fest, dass nach Art. 13 (2) VOBK der Beteiligte nicht nur erklären muss, warum in der betreffenden Sache außergewöhnliche Umstände vorlagen, sondern auch, warum seine Änderung sowohl inhaltlich als auch zeitlich eine gerechtfertigte Reaktion auf diese Umstände darstellt. Insbesondere wenn ein Beteiligter sein Vorbringen in einem sehr späten Stadium des Verfahrens ändern wolle, sollten die in Art. 13 (2) VOBK genannten stichhaltigen Gründe auch Gründe dafür umfassen, warum eine solche Änderung nicht früher hätte eingereicht werden können (mit Verweis auf T 1707/17; siehe auch T 755/16 und T 482/19). In der Entscheidung T 1190/17 erläuterte die Kammer, dass ihre Aufnahme eines neuen Arguments in die Argumentationskette, das zur Feststellung mangelnder erfinderischer Tätigkeit führte, nicht als Einfallstor für die Einführung von Änderungen dienen kann, deren Inhalt weit über das hinaus geht, was für die Widerlegung des neuen Arguments erforderlich ist (ebenso T 1869/18).
In T 2843/19 hob die Kammer die Pflicht der Parteien zur sorgfältigen und beförderlichen Verfahrensführung hervor und ließ den neuen Einwand des Beschwerdeführers nicht zu, da kein außergewöhnlicher Umstand vorgetragen wurde, der das späte Vorbringen dieses Einwandes erst kurz vor dem anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung hätte rechtfertigen können.
In T 2482/22 wies die Kammer das Argument zurück, dass Bedenken hinsichtlich der Gültigkeit der vom EPA erteilten Patente alle anderen Erwägungen ausstechen müssten. Dass der Gesetzgeber dies anders gesehen habe, sei aus Art. 12 (2) VOBK (in der Fassung des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 26. Juni 2019) ersichtlich, wonach das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung ist und eine Partei ihr Beschwerdevorbringen auf die Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel zu richten hat, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen. Infolgedessen hätten die Beteiligten nur sehr begrenzte Möglichkeiten, ihr Vorbringen zu ändern oder zu ergänzen, was umso mehr gelte, je weiter das Beschwerdeverfahren bereits fortgeschritten sei. Die Kammer stellte fest, dass Art. 12 (4) und 13 (1) VOBK noch Kriterien enthalten, die sich auf die Begründetheit oder die Relevanz eines solchen neuen Vorbringens beziehen könnten, allerdings vorbehaltlich der Darlegung stichhaltiger Gründe. Solche Kriterien fehlten jedoch völlig in der Formulierung von Art. 13 (2) VOBK. Die Begründetheit bzw. Relevanz könne somit nicht unter das alleinige Kriterium der "außergewöhnlichen Umstände" subsumiert werden, das sich vielmehr nur auf Umstände beziehen könne, die sich aus der Entwicklung des Verfahrens ergeben, d. h. aus dem Verfahren selbst und nicht aus seinem Gegenstand. In diesem Sinne siehe auch die frühere Entscheidung T 1590/19.
(ii) Entscheidungen, wonach kein kausaler Zusammenhang erforderlich ist
In anderen Entscheidungen wurde ein solcher ursächlicher Zusammenhang zwischen den außergewöhnlichen Umständen und der späten Einreichung nicht vorausgesetzt. Vielmehr können dieser Ansicht zufolge, auch wenn die späte Einreichung nicht gerechtfertigt ist, im Rahmen der Prüfung der außergewöhnlichen Umstände andere Gesichtspunkte herangezogen werden. So erläuterte die Kammer in T 339/19 beispielsweise, dass es in jedem Einzelfall der entscheidenden Kammer obliegt, den Anspruch auf rechtliches Gehör und das öffentliche Interesse an einer zügigen Rechtsprechung abzuwägen. In diesem Sinne wurden in zahlreichen Entscheidungen "außergewöhnliche Umstände" als Umstände angesehen, in denen durch die Zulassung weder die Verfahrensrechte einer anderen Partei (bzw. der anderen Parteien in inter partes Verfahren) noch die Verfahrensökonomie beeinträchtigt werden (s. z.B. T 1294/16, T 101/18, T 1290/18, T 1598/18, T 2920/18, T 339/19 und T 2465/19, die teilweise im Folgenden zusammengefasst sind, sowie die weiteren dort genannten Entscheidungen). Ähnlich auch T 713/14, T 545/18 und T 1686/21 (in der auch die große Zahl an unterschiedlichen Einwänden berücksichtigt wurde).
In T 1294/16 stellte die Kammer fest, dass die vorrangige Motivation für den Konvergenzansatz die Verfahrensökonomie des Beschwerdeverfahrens war. Daraus leitete die Kammer ab, dass es, wenn die Zulassung (verspäteten) Vorbringens nicht die Verfahrensökonomie beeinträchtigt, angemessen ist zu akzeptieren, dass "außergewöhnliche Umstände" im Sinne von Art. 13 (2) VOBK vorliegen, sofern dies keine nachteiligen Auswirkungen für den anderen Beteiligten hat. Im betreffenden Ex-parte-Verfahren ließ die Kammer die drei verspätet eingereichten Hilfsanträge zu, da sie die Änderung während der mündlichen Verhandlung behandeln konnte. Dieser Entscheidung wurde z. B. in T 1290/18, T 339/19 und T 2465/19 gefolgt (letztere befasste sich speziell mit der Situation in Ex-parte-Verfahren). Siehe auch T 424/21, wo darauf hingewiesen wird, dass ein Verbot der Streichung von abhängigen Ansprüchen in einem späten Stadium zu einer großen Zahl von Hilfsanträgen in einem frühen Stadium führen könnte und somit nicht unbedingt im Interesse der Verfahrensökonomie liegt.
In T 339/19 stimmte die Kammer zu, dass der Begriff "außergewöhnliche Umstände" im Lichte der Grundsätze der VOBK ausgelegt werden sollte. Sie fügte hinzu, dass die Kammern diese Grundsätze im Zusammenhang mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 113 EPÜ), dem Recht auf eine mündliche Verhandlung (Art. 116 EPÜ) und dem Recht auf ein faires Verfahren sowohl nach Art. 6 EMRK (gemäß G 1/05, ABl. 2007, 362; G 2/08 vom 15. Juni 2009 date: 2009-06-15; T 1676/08; R 19/12 vom 25 April 2014 date: 2014-04-25) als auch nach Art. 125 EPÜ (T 669/90, ABl. 1992, 739) entwickelt haben. Der Anspruch auf rechtliches Gehör betrifft auch das Recht des Vorbringens und der Aufnahme von Beweismitteln gemäß der Definition in Art. 117 EPÜ (T 2294/12). Art. 114 (2) EPÜ stellt jedoch klar, dass dieses Recht nicht absolut ist. In jedem Einzelfall obliegt es der entscheidenden Kammer, den Anspruch auf rechtliches Gehör und das öffentliche Interesse an einer zügigen Rechtsprechung abzuwägen. Die Kammer stimmte T 855/96 zu, wo die Kammer die Stellung der Beschwerdekammern als einzige gerichtliche Instanz in Verfahren vor dem EPA hervorgehoben hatte.
In T 2920/18 hielt die Kammer fest, dass der Wortlaut von Art. 13 (2) VOBK nicht verlangt, dass die Änderung durch außergewöhnliche Umstände ausgelöst wird. Die außergewöhnlichen Umstände könnten auch rechtlicher Natur sein. Auch eine teleologische Auslegung, die den Zweck der Befugnis des EPA, verspätetes Vorbringen nicht zu berücksichtigen, wie in Art. 114 (2) EPÜ und Art. 123 (1) EPÜ verankert, in Betracht zieht, scheint diese Schlussfolgerung zu stützen. In der Tat geht aus den vorbereitenden Dokumenten zum EPÜ 1973 hervor (vgl. T 122/84, T 951/91), dass diese verfahrensrechtliche Möglichkeit verhindern sollte, dass die Verfahrensbeteiligten das Verfahren unzulässig verzögern. Diese Befugnis stellt keinen verfahrensrechtlichen Selbstzweck dar. Siehe auch T 2295/19 derselben Kammer, bestätigt z. B. in T 1800/21.
Dieser Ansatz wurde auch beispielsweise in den Entscheidungen T 1857/19, T 1709/20 und T 732/21 bestätigt (in letzterer stellte die Kammer fest, dass der Zweck der VOBK darin besteht, die Rechte der Parteien auf ein faires Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist zu wahren).
Viele Entscheidungen, die diesem Ansatz folgen, betreffen verspätet eingereichte Anträge, in denen gegenüber den vorherigen lediglich eine Anspruchskategorie oder abhängige Ansprüche gestrichen wurden. Siehe dazu z. B. die Erörterung der Rechtsprechung zu diesem Thema in T 1800/21, sowie Kapitel V.A.4.5.4 j).