4.5.4 Zulassung neuer Anträge
Nach mittlerweile überwiegender Auffassung stellt auch eine unkomplizierte Änderung im Anspruchssatz, wie etwa die Streichung einer gesamten Anspruchskategorie, immer eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Art. 13 VOBK dar, unabhängig davon, ob sie den faktischen oder rechtlichen Rahmen des Verfahrens verschiebt und damit zu einem "fresh case" führt (siehe z. B. T 1800/21 mit Verweisen auf die Rechtsprechung; für weitere Einzelheiten siehe Kapitel V.A.4.2.3 d)).
Im Falle der Streichung von Anspruchskategorien, abhängigen Ansprüchen oder Alternativen in Ansprüchen bejahten die Kammern unter den Umständen des jeweiligen Falles jedoch in den meisten Entscheidungen das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände und ließen die Anträge zu, selbst wenn diese schon früher hätten eingereicht werden können (z. B. T 713/14, T 1224/15, T 1597/16, T 1439/16, T 853/17, T 1569/17, T 306/18, T 1857/19, T 489/20, T 2019/20, T 424/21). Als Begründung wurde hierzu unter anderem angeführt, dass der reduzierte Anspruchssatz den Umfang des Beschwerdeverfahrens nicht ändere, sondern das Verfahren vereinfache (z. B. T 306/18, ebenso T 2019/20), er der Verfahrensökonomie zuträglich sei, ohne den Einsprechenden zu benachteiligen (z. B. T 1857/19, T 424/21), dass die verbleibenden Ansprüche immer den Hauptfokus des Beschwerdeverfahrens gebildet hätten (z. B. T 489/20), dass die Grundsätze der Verfahrensökonomie und der Verfahrensgerechtigkeit gewahrt blieben (z. B. T 2295/19, in gleicher Weise T 1800/20) oder dass der faktische und rechtliche Rahmen unverändert blieb und sich der Beschwerdeführer nicht mit einem neuen Gegenstand befassen musste (T 2084/22).
Beispiele, in denen die reduzierten Anspruchssätze nicht zugelassen wurden, finden sich z. B. in T 355/19 (Hilfsantrag 1 und 2), T 499/20 und T 1558/22. In T 499/20 wurden die Anträge im Wesentlichen deshalb nicht zugelassen, weil die Änderung den faktischen oder rechtlichen Rahmen des Verfahrens verschob. In T 355/19 und T 1558/22 hingegen stellte die Kammer auf den Zeitpunkt der Einreichung ab. In T 1558/22 befand die Kammer, dass das Einreichen des geänderten Antrags erst in der mündlichen Verhandlung trotz eines früheren Einwands des Beschwerdeführers gegen den Konvergenzansatz verstieß.
Zur Auslegung "außergewöhnlicher Umstände" siehe auch Kapitel V.A.4.5.1 d) bis V.A.4.5.1 g).
(i) Änderungen zugelassen
In T 424/21 befand die Kammer (mit Verweis auf T 1857/19), dass das Streichen der abhängigen Ansprüche 4 und 5 der Verfahrensökonomie zuträglich war, da damit eindeutig Einwände ausgeräumt wurden, ohne neue Fragen aufzuwerfen. Darin sah die Kammer stichhaltige Gründe, die außergewöhnliche Umstände rechtfertigten. Die Kammer berücksichtigte, dass die Streichung nicht die Einwände gegen die anderen Ansprüche betraf, auf die umfassend in der Beschwerdebegründung, der Erwiderung und der Mitteilung der Kammer nach Art. 15 (1) VOBK eingegangen worden war. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) wurde daher durch die Zulassung des Antrags nicht benachteiligt. Die Kammer interpretierte die Formulierung "grundsätzlich" ("shall, in principle") in Art. 13 (2) VOBK dahingehend, dass sie der Kammer zumindest ein gewisses Ermessen bei der Beurteilung der behaupteten außergewöhnlichen Umstände einräumt. Die sinnvolle Ausübung dieses Ermessens scheine in technischen Gebieten mit Patenten mit einer Vielzahl abhängiger Ansprüche besonders wichtig zu sein. Die Streichung abhängiger Ansprüche in Reaktion auf die Entwicklung des Beschwerdeverfahrens grundsätzlich zu verbieten, würde dazu führen, dass schon in einem frühen Verfahrensstadium eine enorme Anzahl an Hilfsanträgen zur Abdeckung aller Kombinationen und Permutationen aller möglichen Auffangpositionen eingereicht werden müsste. Dies sei nicht im Interesse der Verfahrensökonomie und nicht im Einklang mit dem Sinn und Zweck der VOBK.
In T 2295/19 wurde der um die Stoffansprüche reduzierte Hilfsantrag 5 zugelassen, obwohl nach Ansicht der Kammer die Einreichung eines solchen Anspruchssatzes bereits mit der Beschwerdeerwiderung möglich und zumutbar gewesen wäre. Die Kammer begründete dies wie folgt: In ähnlich gelagerten Fällen hätten einige Beschwerdekammern das Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen dann bejaht, wenn eine Zulassung der Änderung weder dem Grundsatz der Verfahrensökonomie bzw. dem in der Verfahrensordnung verankerten Konvergenzansatz noch den berechtigten Interessen einer Verfahrenspartei zuwiderlaufe (vgl. T 1598/18, T 1294/16, T 339/19). Die Kammer stimmte dieser Auffassung zu und bemerkte, dass der Wortlaut des Art. 13 (2) VOBK nicht fordere, dass die Änderung auf außergewöhnliche Umstände zurückführbar sein müsse. Es genüge vielmehr, dass außergewöhnliche Umstände vorlägen. Diese könnten somit auch rechtlicher Natur sein. Dies widerspreche auch nicht den erläuternden Bemerkungen (Zusatzpublikation 1 ABl. 2020, Anlage 2, S. 194), die offenbar nur den Hauptanwendungsfall der Vorschrift illustrierten. Zudem scheine eine teleologische Interpretation, die den Zweck der in Art. 114 (2) und 123 (1) EPÜ verankerten Befugnis der Nichtberücksichtigung von spät vorgebrachten Tatsachen, Beweismitteln und Anträgen in Betracht ziehe, dieses Ergebnis zu stützen. Aus den vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ 1973 (vgl. T 122/84, T 951/91) ergebe sich, dass diese verfahrensrechtliche Möglichkeit verhindern sollte, dass die Beteiligten das Verfahren missbräuchlich hinauszögern. Sofern eine Beeinträchtigung der Grundsätze der Verfahrensökonomie und des fairen Verfahrens nicht zu befürchten sei, bestehe nach Auffassung der Kammer somit auch kein Grund, in einem späten Verfahrensstadium eingereichte Anspruchsanträge nicht zu berücksichtigen (vgl. auch T 339/19). Ebenso z. B. T 2920/18 (derselben Kammer), T 2186/21 und T 2022/22.
In T 355/19 betonte die Kammer zwar im Zusammenhang mit den Hilfsanträgen 1 und 2, dass die "Salamitaktik" mit Vortasten und schrittweisem Ausschließen in einem Verfahren gerichtlicher Natur inakzeptabel ist, ließ jedoch Hilfsantrag 3 zu, da die Änderungen weit vor der mündlichen Verhandlung eingereicht worden waren und die Streichungen der Ansprüche die zu prüfenden Elemente offensichtlich vereinfachten. Siehe auch T 376/22.
In T 489/20 ließ die Kammer unter Verweis auf T 2080/18 (s. Kapitel V.A.4.2.3 d) oben) den neuen Hauptantrag, in dem alle Verfahrensansprüche gestrichen worden waren, zu, da diese Streichungen nur den Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit des im erteilten Anspruch 20 definierten Verfahrens ausräumten (der erstmals einen Monat zuvor durch den Beschwerdegegner explizit erhoben worden war), ohne sich auf Fragen, Vorbringen und Schlussfolgerungen hinsichtlich der verbleibenden Ansprüche auszuwirken, die stets den Hauptfokus des Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens gebildet hatten.
In T 2019/20 waren in dem in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer eingereichten Antrag alle Produktansprüche gestrichen worden. Die Kammer befand, dass der beanspruchte Gegenstand und die Angriffe gegen ihn im ursprünglichen Beschwerdevorbringen sowohl des Beschwerdeführers als auch des Beschwerdegegners im Sinne von Art. 12 (1) bis (3) VOBK vollständig enthalten waren. Darüber hinaus schränkte der Antrag die potenziell zur Diskussion stehenden Fragen ein. Damit stellte das Einreichen dieses Antrags unter Berücksichtigung aller Tatsachen des vorliegenden Falls zwar formal, aber nicht inhaltlich eine Änderung des Vorbringens eines Beteiligten im Sinne von Art. 12 (4) VOBK dar, sondern vielmehr einen teilweisen Verzicht auf den ursprünglich im Beschwerdeverfahren verteidigten Gegenstand. Es gebe keinen ersichtlichen Grund, einen solchen Antrag gemäß Art. 12 (5) VOBK, Art. 13 (1) VOBK oder Art. 13 (2) VOBK nicht zuzulassen.
In der Sache T 1800/21 waren im Hilfsantrag V, der nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht wurde, lediglich die Vorrichtungsansprüche beibehalten worden. Hinsichtlich der Auslegung des Begriffs "außergewöhnliche Umstände" bestätigte die Kammer die Auffassung in T 2295/19, wonach die Vorschrift des Art. 13 (2) VOBK den Grundsätzen der Verfahrensökonomie und des fairen Verfahrens dient. Demnach könne ein Hilfsantrag berücksichtigt werden, wenn die Änderung den faktischen oder rechtlichen Rahmen des Verfahrens nicht verschiebe, keine Neugewichtung des Verfahrensgegenstandes bedinge und weder dem Grundsatz der Verfahrensökonomie noch den berechtigten Interessen einer Verfahrenspartei zuwiderlaufe. Es scheine sich eine einheitliche Rechtsprechungslinie dahingehend zu entwickeln, dass in Fällen, in denen durch eine unkomplizierte Änderung wie das Streichen einer gesamten Anspruchskategorie eine Antragsfassung vorliegt, auf deren Basis das Patent erkennbar aufrechterhalten werden kann, außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 13 (2) VOBK vorliegen können. Diese Rechtsprechung füge sich, so die Kammer, auch hinsichtlich des Grades der geforderten Relevanz in die Stufen des mit der VOBK etablierten Konvergenzansatzes ein.
(ii) Änderungen nicht zugelassen
In T 355/19 befand die Kammer, dass die Streichung von Ansprüchen in bestimmten Fällen in einem späten Stadium des Beschwerdeverfahrens zwar zulässig sein kann, dies jedoch nicht bedeutet, dass der Patentinhaber die Ansprüche während des gesamten Beschwerdeverfahrens nach Belieben anpassen kann. Dies gilt der Kammer zufolge insbesondere, wenn der Ausgangspunkt ein Anspruchssatz mit sieben unabhängigen Ansprüchen ist und mehrmals im Beschwerdeverfahren geänderte Anspruchssätze eingereicht wurden. Einem Verfahrensbeteiligten diese Freiheit zu lassen, käme der Akzeptanz der "Salamitaktik" mit Vortasten und schrittweisem Ausschließen gleich, die in keinem Verfahren und noch weniger in einem Verfahren gerichtlicher Natur wie dem Beschwerdeverfahren vor dem EPA erlaubt ist. Siehe auch T 172/22.
Im Fall T 499/20, der die Streichung von Alternativen innerhalb eines Anspruchs betraf, merkte die Kammer zunächst an, dass die Einreichung eines Anspruchssatzes mit einem weiter eingeschränkten Anspruch 1 schon mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung möglich und sinnvoll gewesen wäre. Darüber hinaus vereinfachte die Einschränkung im ersten Hilfsantrag das Verfahren nicht dahingehend, dass sie den Einwand zur erfinderischen Tätigkeit unmittelbar ausgeräumt hätte. Daher war weder davon auszugehen, dass der erste Hilfsantrag den faktischen oder rechtlichen Rahmen des Verfahrens nicht verschieben würde, noch dass es keiner Neugewichtung des Verfahrensgegenstands bedürfen würde.
In T 1558/22 jedoch stellte die Kammer nicht auf eine Vereinfachung des Verfahrens ab, sondern auf die Verfahrensführung des Beschwerdegegners (Patentinhabers). Dieser hatte argumentiert, es handle sich beim Hilfsantrag 4a (in dem zwei Verfahrensansprüche gestrichen worden waren) um die korrigierte Fassung des Hilfsantrags 4, der bereits im Einspruchsverfahren eingereicht worden war und erneut mit der Beschwerdeerwiderung. Die gestrichenen Verfahrensansprüche hätten einen offensichtlichen Fehler enthalten, da bestimmte einschränkende Merkmale versehentlich nicht enthalten gewesen seien. Die Kammer vermochte jedoch keinen offensichtlichen Fehler zu erkennen, noch war die Berichtigung nach ihrer Ansicht offensichtlich. Zudem hob sie hervor, dass ihre Auffassung zur erfinderischen Tätigkeit der Ansprüche 12 und 13 gemäß Hilfsantrag 4 den Beschwerdegegner in der mündlichen Verhandlung nicht überrascht haben konnte. Der Beschwerdeführer durfte nicht davon ausgehen, dass alle in der vorläufigen Auffassung nicht nochmals für nachrangige Hilfsanträge erwähnten Einwände nicht weitergälten trotz gleichen Sachverhalts. Eine entsprechende Änderung versuchte der Beschwerdegegner erst während der mündlichen Verhandlung nachzuholen. Einer solchen abwartenden Verfahrensführung sollte aber, so die Kammer, mit dem Konvergenzansatz der VOBK gerade Einhalt geboten werden. Die Kammer stellte somit fest, dass ein außergewöhnlicher Umstand außerhalb des Verantwortungsbereichs des Beschwerdegegners, der die verspätete Einreichung des Hilfsantrags 4a hätte rechtfertigen können, nicht vorlag. Daher sei auch nicht maßgeblich, ob weitere in Art. 12 (4) und 13 (1) VOBK definierte Kriterien der Ermessenausübung (z. B. fehlende Komplexität der Änderung), die zusätzlich zu den strikten Erfordernissen des Art. 13 (2) VOBK Berücksichtigung finden könnten, erfüllt gewesen seien.