7.2. Zweite (bzw. weitere) medizinische Verwendung
7.2.1 Einleitung
Ein Stoff oder ein Stoffgemisch, von dem bereits eine erste medizinische Indikation bekannt ist, kann nach Art. 54 (5) EPÜ noch für eine zweite oder weitere Verwendung in einem Verfahren nach Art. 53 c) EPÜ patentierbar sein, sofern diese Verwendung neu und erfinderisch ist. Laut G 1/83 (ABl. 1985, 60) ist ein Anspruch auf eine weitere medizinische Verwendung ein Anspruch, der auf die Verwendung eines Stoffs oder Stoffgemischs zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung gerichtet ist. Ein solcher Anspruch ist neu, wenn die therapeutische Anwendung, d. h. die durch die beanspruchte Verwendung erzielte therapeutische Wirkung, neu ist. In der Entscheidung G 2/08 date: 2010-02-19 (ABl. 2010, 456) werden die rechtlichen und geschichtlichen Zusammenhänge betreffend der Patentierbarkeit von weiteren medizinischen Indikationen erläutert.
Unter der Geltung des EPÜ 1973 konnte ein Patent für eine weitere medizinische Anwendung nach der durch die Entscheidung G 1/83 (ABl. 1985, 60) begründeten Rechtsprechung mit Ansprüchen erteilt werden, die unmittelbar auf die Verwendung eines Stoffs oder Stoffgemischs zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung ("Swiss-type claim") gerichtet waren. Die Neuheit des Gegenstands eines derartigen Anspruchs konnte nicht nur aus der Neuheit des Stoffs oder des Herstellungsverfahrens abgeleitet werden, sondern auch aus seinem neuen therapeutischen Gebrauch (G 1/83). Der "hier festgelegte Grundsatz der Beurteilung der Neuheit", ist eine eng begrenzte Ausnahme von dem allgemeinen Erfordernis der Neuheit und kann auf anderen Gebieten der Technik nicht angewandt werden.
Nach Art. 54 (4) EPÜ (früher Art. 54 (5) EPÜ 1973) wird bekannten Stoffen oder Stoffgemischen Neuheit zuerkannt, sofern sie zur erstmaligen Anwendung in einem solchen medizinischen Verfahren bestimmt sind ("erste Anwendung in einem medizinischen Verfahren"). Zu Beginn der 80er-Jahre wurde die Große Beschwerdekammer ersucht zu entscheiden, ob trotz des Wortlauts von Art. 54 (5) EPÜ 1973 (jetzt Art. 54 (4) EPÜ), der die Patentierung auf die erste medizinische Anwendung zu begrenzen schien, ein Patentschutz nach dem EPÜ für jede weitere medizinische Anwendung erteilt werden könne. Die Große Beschwerdekammer erweiterte den Begriff der Neuheit gemäß Art. 54 (5) EPÜ 1973 auf jede weitere medizinische Indikation mit der sogenannten "schweizerischen Anspruchsform", d. h. auf einen Anspruch auf die "Verwendung eines Stoffs oder Stoffgemischs zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte neue und erfinderische therapeutische Anwendung" (G 1/83, ABl. 1985, 60; Rechtsauskunft des schweizerischen Bundesamts für Geistiges Eigentum, ABl. 1984, 581).
Im Zuge der EPÜ 2000 Revision wurde der bisherige Art. 54 (5) EPÜ 1973 ("erste Anwendung in einem medizinischen Verfahren") zu Art. 54 (4) EPÜ, und ein neu eingeführter Art. 54 (5) EPÜ stellt eine zweite medizinische Anwendung unter Schutz. Der neue Art. 54 (5) EPÜ beseitigt jegliche Rechtsunsicherheit betreffend die Patentierbarkeit von weiteren medizinischen Indikationen. Zweckgebundener Erzeugnisschutz wird so unzweifelhaft für jede weitere medizinische Anwendung eines als Arzneimittel schon bekannten Stoffs oder Stoffgemischs gewährt.
Ansprüche auf eine zweite medizinische Verwendung können nunmehr als Erzeugnisansprüche abgefasst werden, die sich auf eine bestimmte zweite oder weitere medizinische Verwendung beziehen (s. z. B. T 1599/06).
In T 1758/07 entschied die Kammer, dass G 1/83 nur für die zweite (und weitere) medizinische Indikation anwendbar ist. Daraus folgt, dass die Rechtsfiktion aus G 1/83, wonach die therapeutische Behandlung nach Art. 52 (4) EPÜ 1973 ein beschränkendes Merkmal ist, nur gilt, wenn bei einer therapeutischen Behandlung tatsächlich eine zweite (oder weitere) medizinische Indikation vorliegt. Betrifft der beanspruchte Gegenstand jedoch die erste medizinische Indikation, kann G 1/83 nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden, um denselben Gegenstand zusätzlich als zweite medizinische Indikation zu beanspruchen.
In T 558/20 hatte die Kammer über die ordnungsgemäße Beurteilung der Neuheit nach Art. 54 (5) EPÜ zu entscheiden, insbesondere wenn ein Anspruch ein kombiniertes chirurgisches und therapeutisches Verfahren definiert. Die Kammer stellte fest, dass Art. 54 (5) EPÜ als solcher keine Kriterien definiert, nach denen zu beurteilen ist, ob ein nach dem Wortlaut des Artikels formulierter Anspruch neu ist oder nicht. Sie befand, dass die Beurteilung der Neuheit eines Anspruchs gegenüber dem Stand der Technik auf die übliche Weise zu erfolgen hat, d. h. durch Vergleichen der Anspruchsmerkmale, der Art des Stoffs oder Stoffgemischs sowie der Verwendungs- und Verfahrensschritte mit der Offenbarung des Stands der Technik. Nach Auffassung der Kammer definierte der Anspruch ein Verfahren zur Behandlung eines an einer degenerativen Knochenkrankheit leidenden Patienten und umfasste zwei Schritte, nämlich erstens das Bilden eines Hohlraums in einem intakten Knochen und zweitens das Füllen des Hohlraums mit Knochenregenerationsmaterial. Dies war die "spezifische Anwendung in einem Verfahren" nach Art. 54 (5) EPÜ, die es mit dem Stand der Technik zu vergleichen galt. Der chirurgische Schritt war eindeutig Bestandteil des therapeutischen Verfahrens. Ohne ihn konnte das Knochenaufbaumaterial seine therapeutische Wirkung nicht entfalten. Das im vorliegenden Anspruch definierte Verfahren war als Ganzes zu bewerten. Daher durften die chirurgischen Verfahrensschritte bei der Beurteilung der Neuheit des Anspruchs nicht unberücksichtigt bleiben. Die Neuheit wurde hier bejaht.