8.1. Neuheitskriterien für Ansprüche auf eine nicht medizinische Verwendung und Verfahrensansprüche, die ein Verwendungsmerkmal enthalten
8.1.1 In Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer behandelte allgemeine Fragen
Das EPÜ lässt generell sowohl Verfahrensansprüche als auch Verwendungsansprüche zu. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer ist es meist nur eine Frage der individuellen Wahl, ob der Anmelder eine Tätigkeit als Verfahren zur Ausführung der Tätigkeit unter Angabe verschiedener Verfahrensschritte beansprucht oder ob er diese Tätigkeit, zu der naturgemäß eine Folge von Verfahrensschritten gehören kann, als Anwendung oder Verwendung einer Sache für einen bestimmten Zweck in einem Anspruch geschützt erhalten will. Die Große Beschwerdekammer sieht hierin keinen sachlichen Unterschied (G 1/83, ABl. 1985, 60).
In zwei Entscheidungen befasste sich die Große Beschwerdekammer umfassend mit der Frage der Neuheit einer zweiten nicht medizinischen Verwendung, G 2/88 (ABl. 1990, 93) und G 6/88 (ABl. 1990, 114). Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Fragen betrafen Verwendungsansprüche, d. h. Ansprüche, die eine Verwendung des Stoffs X für einen bestimmten Zweck definieren oder eine ähnliche Formulierung aufweisen, deren einziges neues Merkmal im Verwendungszweck besteht. Sie bezogen sich nicht auf medizinische Erfindungen, sondern waren allgemeiner Natur und betrafen in erster Linie die Auslegung des Art. 54 (1) und (2) EPÜ 1973. Die Patentierbarkeit der zweiten nicht medizinischen Verwendung eines Produkts wurde grundsätzlich schon mit der Entscheidung G 1/83 (ABl. 1985, 60) anerkannt, die sich mit dem Problem der zweiten medizinischen Verwendung einer Substanz befasste.
Verwendungsansprüche auf nicht medizinischem Gebiet sind grundsätzlich zulässig und unterliegen keinen besonderen Bedingungen.
In den Entscheidungen G 2/88 (ABl. 1990, 93) und G 6/88 (ABl. 1990, 114) hatte die Große Beschwerdekammer die Frage zu beantworten, ob ein Anspruch auf die Verwendung eines Stoffs für einen bestimmten nicht medizinischen Zweck neu im Sinne des Art. 54 EPÜ 1973 gegenüber einer Vorveröffentlichung ist, die die Verwendung dieses Stoffs für einen anderen nicht medizinischen Zweck offenbart, sodass das einzige neue Merkmal des Anspruchs der Zweck ist, für den der Stoff verwendet wird. Das besondere Problem dieser Fälle war, dass die schon bekannte Verwendung der Substanz, obwohl ganz klar einem anderen Zweck dienend, inhärent auch die nun in der neuen Anmeldung beanspruchte Verwendung umfasste (T 59/87 date: 1988-04-26, ABl. 1988, 347; T 208/88 vom 20. Juli 1988 date: 1988-07-20).
Die Große Beschwerdekammer verwies auf T 231/85 (ABl. 1989, 74), in der die Anmeldung auf die Verwendung eines Stoffs als Fungizid gerichtet war, während der Stand der Technik denselben Stoff als Wachstumsregulator beschrieb. In der beanspruchten Erfindung wie auch im Stand der Technik wurden beide Behandlungen (Besprühen der Nutzpflanzen) auf dieselbe Weise ausgeführt (das Mittel für die Realisierung war also dasselbe). Die Kammer war der Auffassung, dass die beanspruchte Erfindung neu war, weil sich die technische Lehre in der Anmeldung von der in der Entgegenhaltung unterscheidet, und dass die Verwendung bisher unbekannt gewesen war, auch wenn das Ausführungsmittel dasselbe war.
In G 2/88 und G 6/88 wurde klargestellt, dass eine beanspruchte Erfindung nur dann neu ist, wenn sie mindestens ein wesentliches technisches Merkmal enthält, durch das sie sich vom Stand der Technik unterscheidet. Bei der Neuheitsprüfung besteht daher die erste grundlegende Bewertung darin, den Anspruch auf seine technischen Merkmale hin zu untersuchen. Die Große Beschwerdekammer war der Ansicht, dass die richtige Auslegung von Ansprüchen, die vom Wortlaut her eindeutig eine neue Verwendung eines bekannten Stoffs definieren, in der Regel dahin geht, dass die Erzielung einer neuen technischen Wirkung, die der neuen Verwendung zugrunde liegt, zu den technischen Merkmalen der beanspruchten Erfindung zählt. Somit erfordert die richtige Auslegung eines solchen Verwendungsanspruchs bei Patenten, in denen eine besondere technische Wirkung beschrieben ist, die dieser Verwendung zugrunde liegt, dass ein funktionelles Merkmal in diesem Anspruch als technisches Merkmal implizit enthalten ist, dass also zum Beispiel der Stoff tatsächlich die besondere Wirkung hervorruft.
Die Große Beschwerdekammer fasste zusammen, dass bei einem Anspruch auf eine neue Verwendung eines bekannten Stoffs diese neue Verwendung eine neu entdeckte und im Patent beschriebene technische Wirkung wiedergeben könne. Die Erzielung dieser technischen Wirkung sei als funktionelles technisches Merkmal des Anspruchs zu betrachten (z. B. die Erreichung dieser technischen Wirkung in einem bestimmten Zusammenhang). Sei dieses technische Merkmal der Öffentlichkeit zuvor nicht durch eines der in Art. 54 (2) EPÜ 1973 genannten Mittel zugänglich gemacht worden, dann sei die beanspruchte Erfindung neu, auch wenn diese technische Wirkung bei der Ausführung dessen, was zuvor der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, möglicherweise inhärent aufgetreten sei. In den beiden abschließenden Entscheidungen der Beschwerdesachen T 59/87 date: 1990-08-14 (ABl. 1991, 561) und T 208/88 date: 1990-02-28 (ABl. 1992, 22) befand die Beschwerdekammer die beanspruchten Verwendungserfindungen für neu und erfinderisch.
In T 1385/15 war nach Überzeugung der Kammer die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Rechtsauffassung von G 6/88 nicht gedeckt. In G 6/88 selbst werde in Punkt 8 der Entscheidungsgründe ausgeführt, dass auf mangelnde Neuheit nur erkannt werden kann, sollten alle technischen Merkmale der beanspruchten Erfindung in Verbindung miteinander der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sein. Zusammenfassend sei in G 6/88 dargelegt worden, dass das neuheitsbegründende funktionelle technische Merkmal darin besteht, eine technische Wirkung in einem bestimmten Zusammenhang zu erzielen. Im vorliegenden Fall war das funktionelle technische Merkmal die antimikrobielle Aktivität im Zusammenhang mit der im Anspruch genannten maschinellen Desinfektion von Gegenständen. Dieses Merkmal war im Stand der Technik nicht offenbart. Einem Anspruch auf eine weitere nicht-medizinische Verwendung kann Neuheit nicht abgesprochen werden, wenn die beanspruchte technische Wirkung des Stoffes und die beanspruchte Verwendungsweise nicht in Kombination im Stand der Technik offenbart sind.
In T 1099/16 befand die Kammer wie folgt: Für die Entscheidung, ob ein Anspruch auf die Verwendung eines bekannten Stoffs für einen bestimmten Zweck, der auf einer in dem Patent beschriebenen technischen Wirkung beruht, so auszulegen ist, dass er diese technische Wirkung als funktionelles technisches Merkmal gemäß G 2/88 enthält, muss die technische Wirkung in dem Patent nicht so deutlich und vollständig beschrieben sein, dass die tatsächliche Erzielung dieser Wirkung glaubhaft gemacht wird.
- T 2387/22
In T 2387/22 claim 1 according to auxiliary requests 9 to 11 defined the use of a Vacuum Metallised Pigment (VMP) in a flexographic ink formulation for providing the following technical effects: "fewer print defects, higher hiding and stronger colour and allowing a lower volume anilox". The respondent (patent proprietor) submitted that according to G 2/88, when a use claim defined technical purposes or effects, these were to be interpreted as functional features restricting the scope of protection.
According to the appellant (opponent) these functional features did not meet the requirement of clarity under Art. 84 EPC, since they were defined using relative terms as well as diffusely defined concepts. The respondent replied that it was a well-established practice of the boards to allow the definition of effects or purposes in non-medical use claims using broad and/or relative terms.
The board observed that there was no basis – be it in the case law or in the EPC – for concluding that the limiting functional features of a use claim are exempt from the clarity requirement under Art. 84 EPC or somehow exposed to lower standards in this respect. It however emphasised that – irrespective of whether a claim was directed to a use or to any other category of subject-matter – the mere breadth of protection did not in itself imply a lack of clarity. The decisive consideration was whether the feature(s) in question gave(s) rise, or could plausibly give rise, to legal uncertainty when assessing whether a particular subject-matter falls within or outside the scope of protection conferred by the claim.
Moreover, the board stated that, where the invention was based on the discovery of a new technical effect of a known entity (as in G 2/88 and G 6/88), it was generally accepted in practice to define that effect in correspondingly broad terms, provided the effect was sufficiently distinct to clearly delimit the scope of protection with respect to the prior art. The situation in the present case was, however, fundamentally different. The use claim did not seek to define distinct technical effects, but rather relative improvements in the achievement of such effects..
The board held that where a claimed invention is defined by the use of a known entity to achieve a known technical effect or purpose, and the alleged technical contribution lies in a relative improvement or enhancement of that effect or purpose, the requirement of clarity under Art. 84 EPC generally demands that the feature defining such relative improvement or enhancement be expressed in objectively verifiable terms, thereby ensuring legal certainty regarding the scope of protection. In these "relative-improvement" scenarios, any imprecise functional language could blur the distinction between claimed and known uses, giving rise to the very legal uncertainty that the clarity requirement is intended to prevent.
In the present case, the board concluded that no objective criteria were available for determining when the number of print defects, the degree of hiding, the colour intensity or the anilox volume could be regarded as sufficiently low or high for other uses to fall within or outside the scope of the claim. As a result, the subject-matter of claim 1 could not be assessed objectively in relation to the prior art, which gave rise to legal uncertainty and therefore failed to meet the clarity requirement of Art. 84 EPC.