10.2. Vorurteil in der Fachwelt
10.2.1 Beleg eines Vorurteils
Für die Anerkennung eines Vorurteils gelten nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern im Allgemeinen enge Grenzen. Das tatsächliche Vorliegen eines Vorurteils setzt eine weitverbreitet herrschende, aber falsche Lehrmeinung der gesamten Fachwelt voraus. Derjenige, der sich auf die Überwindung eines Vorurteils beruft, muss sich mit seiner Lösung über die herrschende Lehrmeinung der Fachwelt, d. h. über ihre einhelligen Erfahrungen und Vorstellungen, hinwegsetzen und kann nicht nur die ablehnende Haltung einzelner Fachleute oder Firmen geltend machen (T 531/95; s. auch T 62/82, T 410/87, T 500/88, T 74/90, T 793/97, T 2453/09). Für den Beleg eines Vorurteils wird ein hoher Maßstab an die Beweisführung angelegt; da das Vorurteil in der Regel in Standardwerken oder einem Handbuch dokumentiert sein muss, ist damit der Beweismaßstab fast so hoch wie für den Beleg allgemeinen Fachwissens (T 1989/08).
Eine typische Herangehensweise für den Beleg eines Vorurteils ist die Anführung von gängigem Fachwissen, das vor dem Prioritätsdatum veröffentlicht wurde, obwohl auch andere Herangehensweisen nicht ausgeschlossen werden können. Erklärungen im Patent ohne Anführung spezifischer Belege für das angebliche Vorurteil stellen allerdings keine geeignete Methode für den Beleg eines Vorurteils dar. Gleichermaßen kann eine bloße Erklärung in einer Patentanmeldung das Vorliegen eines Vorurteils ebenfalls nicht beweisen (T 2173/22).
In T 69/83 (ABl. 1984, 357) stellte die Kammer Folgendes fest: Wird mit dem Weglassen einer nach dem Stand der Technik vorteilhaften Komponente eines Stoffgemisches bloß der damit verbundene Nachteil in Kauf genommen, so liegt hierin keine Überwindung eines Vorurteils. Oder mit anderen Worten: Das bewusste Inkaufnehmen eines Nachteils spricht nicht für die Überwindung eines Vorurteils, wenn der Nachteil einfach in Kauf genommen oder das Vorurteil bloß ignoriert wurde (s. auch T 262/87, T 862/91).
In T 347/92 wies die Kammer darauf hin, dass das Auffinden eines relativ kleinen Ausschnitts in einem Bereich, der nach der Lehre der neuesten Veröffentlichungen als unzugänglich galt, nicht als für die Fachperson naheliegend betrachtet werden könne.
In T 550/97 wertete die Beschwerdekammerspäteren, möglicherweise in der Tat rückschrittlichen Lösungen nicht als Indiz für erfinderische Tätigkeit, da kein Grund vorliege anzunehmen, dass diese späteren Entwicklungen auf ein technisches Vorurteil in der Fachwelt zurückzuführen seien, das von der Erfindung hätte überwunden werden müssen.
In T 1212/01 verwies der Patentinhaber auf rund dreißig wissenschaftliche Aufsätze, um zu belegen, dass ein technisches Vorurteil dahin gehend bestehe, dass blutdrucksenkende Medikamente Impotenz verursachen und kein Mittel zu deren Behandlung darstellen. Die Beschwerdekammer vertrat hingegen die Auffassung, dass man vom Inhalt einer solchen Auswahl aus dem Stand der Technik nicht per se darauf schließen könne, dass hiermit ein technisches Vorurteil gegen die orale Behandlung der erektilen Dysfunktion beim Mann ins Leben gerufen werde. Ein solches Vorurteil könne nur anhand des Nachweises festgestellt werden, dass in Bezug auf die technische Lösung in den betreffenden Fachkreisen vor dem Prioritätstag des Streitpatents ein relativ weit verbreiteter Fehler oder eine falsche Vorstellung im Hinblick auf die technische Erfindung bestand. Im vorliegenden Fall treffe dies nicht zu.
In T 984/15 befand die Kammer, dass die Tatsache, dass in einer technischen Spezifikation etwas nicht ausdrücklich offenbart oder gar ausdrücklich untersagt wird, nicht zwangsläufig als "Vorurteil in der Fachwelt" verstanden werden darf. Dies könnte auch andere, nicht technische Gründe haben, wie z. B. die Umgehung einer patentierten Technologie oder ganz einfach die Tatsache, dass die Verfasser in ihren Beratungen eine ansonsten zweckmäßige technische Option aus Zeitmangel nicht erörtert und deswegen verworfen oder ignoriert haben.
In T 179/18 erachtete die Kammer die drei Jahre, die zwischen dem Anmeldetag des Streitpatents und dem Anmeldetag des nächstliegenden Stands der Technik lagen, nicht für einen langen, von einem technischen Vorurteil zeugenden Zeitraum.