2. Aufgabe-Lösungs-Ansatz
2.2. Abweichen vom Aufgabe-Lösungs-Ansatz
Die Kammern haben schon sehr früh in ihrer Rechtsprechung betont, dass bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit Objektivität gewahrt werden muss; bei der Beurteilung ist die objektive, nicht die subjektive Leistung des Erfinders maßgeblich (s. T 1/80, ABl. 1981, 206; T 20/81, ABl. 1982, 217; T 24/81, ABl. 1983, 133; und T 248/85, ABl. 1986, 261). Ausgehend vom objektiv gegebenen Stand der Technik ist die technische Aufgabe nach objektiven Kriterien zu ermitteln und zu untersuchen, ob die anmeldungsgemäße Lösung aus der Sicht der Fachperson nahegelegen hat oder nicht. Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz ist zwar nicht zwingend vorgeschrieben (s. z. B. R 8/19), doch erleichtert seine korrekte Anwendung die objektive Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit. Zudem wird eine rückschauende Betrachtungsweise (Ex-post-facto-Analyse) vermieden, die unzulässigerweise von der Kenntnis der Erfindung Gebrauch macht (T 564/89, T 645/92, T 795/93, T 730/96, T 631/00). Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz soll also grundsätzlich angewandt werden. Wurde jedoch ausnahmsweise eine andere Methode gewählt, so ist zu begründen, warum von diesem allgemein anerkannten Ansatz abgewichen wurde.
In T 465/92 (ABl. 1996, 32) dagegen vermied es die Kammer, die erfinderische Tätigkeit anhand des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes zu prüfen, sondern wies darauf hin, dass diese Methode nur eine von mehreren Möglichkeiten sei, die erfinderische Tätigkeit zu beurteilen, die ihre Vor- und Nachteile habe. Es gab keine Rechtsgrundlage um eine bestimmte Methode für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach Art. 56 EPÜ vorzuschreiben. Nach Ansicht der Kammer kamen alle sieben einschlägigen Entgegenhaltungen der beanspruchten Erfindung gleich nahe. S. auch T 967/97 in diesem Kapitel I.D.3.1. "Allgemeines zur Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik".
In T 188/09 stellte die Kammer zunächst fest, dass unabhängig davon, welchen Ansatz man für die Prüfung des erfinderischen Charakters des beanspruchten Gegenstands zu Hilfe nehme, das Ergebnis bei einer bestimmten Beweislage gleich ausfallen müsse, sei es zugunsten oder zuungunsten der erfinderischen Tätigkeit. Die Entscheidung über die erfinderische Tätigkeit müsse also auch bei Anwendung des "Aufgabe-Lösungs-Ansatzes" ebenso ausfallen, wie wenn man diesen Ansatz nicht anwende. Mit Hinweis auf T 465/92 (ABl. 1996, 32) führte die Kammer folgendes aus: "Wenn mit einer Erfindung völliges Neuland betreten wird, könnte man es bei der Feststellung belassen, dass es keinen nahen Stand der Technik gibt, statt auf der Grundlage dessen, was gerade noch als nächster Stand der Technik betrachtet wird, eine Aufgabe zu konstruieren."
In R 5/13 (ebenso wie in R 9/13, R 10/13, R 11/13, R 12/13 und R 13/13, die allesamt gegen T 1760/11 vom 16. November 2012 date: 2012-11-16 gerichtet waren) argumentierten die Antragsteller, dass ihnen hätte gestattet werden müssen, die erfinderische Tätigkeit bei jedem Schritt des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes unter allen Aspekten und hinsichtlich sämtlicher ihres Erachtens relevanten Ausgangspunkte zu erörtern, obwohl die Kammer die sachliche Debatte strukturiert hatte, indem sie zunächst festgestellt hatte, welche Dokumente den vielversprechendsten Ausgangspunkt darstellten. Die Große Beschwerdekammer urteilte in R 5/13, dass die Kammer diesbezüglich nicht nur die in ihrer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung angekündigte Reihenfolge eingehalten, sondern auch systematisch das Standardverfahren gemäß dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz befolgt hatte. Die Prüfung des Gegenstands eines Patentanspruchs auf erfinderische Tätigkeit anhand des allgemein anerkannten Aufgabe-Lösungs-Ansatzes ist eine Angelegenheit des materiellen Rechts. Dies gilt auch für die Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik als ersten Schritt im Aufgabe-Lösungs-Ansatz ganz unabhängig davon, ob man ein einziges oder mehrere Dokumente als Ausgangspunkt oder vielversprechendstes Sprungbrett zur Erfindung wählt.
In T 68/16 stellte die Kammer fest, dass eine Abteilung, die den Aufgabe-Lösungs-Ansatz nicht anwendet, in der Regel die Gründe dafür angeben sollte, und sei es nur, um den Eindruck zu zerstreuen, dass sie willkürlich handelt. Eine Einspruchsabteilung sollte sich zwar an die ständige Rechtsprechung halten (d. h. den Aufgabe-Lösungs-Ansatz anwenden), sie ist aber für die erstinstanzlichen Abteilungen nicht formell bindend. Nur die Abteilung, deren Entscheidung angefochten wird, ist durch die rechtliche Beurteilung der Kammer gebunden (Art. 111 (2) EPÜ). Die Kammer stellte fest, dass die Richtlinien für die Prüfung in der damals geltenden Fassung unter G‑VII, 5, darauf hinwiesen, dass von diesem Ansatz "nur in Ausnahmefällen […] abgewichen werden sollte". Folglich entschied sie, dass eine Abteilung, die sich in einem Ausnahmefall dafür entscheidet, den Aufgabe-Lösungs-Ansatz nicht anzuwenden und ihre Wahl nicht begründet, keinen wesentlichen Verfahrensmangel begangen hat. Die Kammer stellte jedoch fest, dass im vorliegenden Fall die Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes die Einspruchsabteilung daran hätte hindern können, eine mangelhafte Begründung vorzulegen. Die Leitlinien wurden inzwischen geändert, und ab der Fassung von 2018 wurde die zitierte Formulierung entfernt. Die entsprechende Stelle in den EPÜ Richtlinien G‑VII, 5 (Stand April 2025) lautet: "Im Interesse einer objektiven und nachvollziehbaren Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wird der so gennante ‘Aufgabe-Lösungs-Ansatz angewendet’."
In T 2679/19 erklärte der Einsprechende, dass der Aufgabe-Lösungs-Ansatz nicht die einzige Methode zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sei und dass die Fachperson unabhängig von unterscheidenden Merkmalen und der objektiven Aufgabe stets nach Verbesserungen suche. Die Kammer sah keinen Grund, im vorliegenden Fall vom Aufgabe-Lösungs-Ansatz abzuweichen, und stellte fest, dass, wenn man davon ausgeht, dass die Fachperson ohnehin immer nach "Verbesserungen" sucht und erkennt, dass ein einfacher Zusammenbau wünschenswert ist (und damit in der Tat eine zu lösende Aufgabe darstellt), sie dennoch nicht zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangt. Die weiteren Anpassungen, die erforderlich sind, um zur Struktur des Anspruchs 1 zu gelangen, beruhen auf rein subjektiven oder rückschauenden Betrachtungsweisen.