2. Aufgabe-Lösungs-Ansatz
2.1. Objektive Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit
Artikel 56 EPÜ, wonach eine Erfindung als auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhend gilt, "wenn sie sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt", enthält eine negative Definition der in Art. 52 (1) EPÜ geforderten "erfinderischen Tätigkeit". Für eine objektive und nachvollziehbare Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wurde der sogenannte "Aufgabe-Lösungs-Ansatz" entwickelt, der sich in die folgenden Phasen gliedert:
a) Ermittlung des "nächstliegenden Stands der Technik",
b) Beurteilung der technischen Ergebnisse (oder Wirkungen), die mit der beanspruchten Erfindung gegenüber dem ermittelten "nächstliegenden Stand der Technik" erzielt werden,
c) Bestimmung der technischen Aufgabe, deren erfindungsgemäße Lösung diese Ergebnisse erzielen soll,
d) Prüfung der Frage, ob die beanspruchte Lösung ausgehend vom nächstliegenden Stand der Technik und der objektiven technischen Aufgabe für die Fachperson naheliegend gewesen wäre (G 1/19, ABI. 2021, A77, Nr. 26 der Gründe; s. auch G 2/21, ABI 2023, A85; T 939/92, ABl. 1996, 309; T 15/93; T 433/95; T 917/96; T 631/00; T 423/01; T 215/04; T 1621/06; T 1183/06; T 824/07; s. auch EPÜ Richtlinien G‑VII, 5 – Stand April 2025).
Zur Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes auf Ansprüche, die technische und nicht technische Aspekte aufweisen (insbes. bei computerimplementierten Erfindungen), s. dieses Kapitel I.D.9.2. und auf Ansprüche bei chemischen Erfindungen, s. dieses Kapitel I.D.9.9.1.
Als Grundlage für den Aufgabe-Lösungs-Ansatz wird von den Beschwerdekammern häufig auf R. 42 (1) c) EPÜ verwiesen. Nach R. 42 (1) c) EPÜ ist eine Erfindung so darzustellen, dass danach die technische Aufgabe, auch wenn sie nicht ausdrücklich als solche genannt ist, und deren Lösung verstanden werden können. Aufgabe und Lösung sind somit Bestandteile jeder technischen Erfindung. Die als Aufgabe-Lösungs-Ansatz bezeichnete Arbeitsmethode wurde als ein Werkzeug entwickelt, um insbesondere Objektivität bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sicherzustellen und eine rückschauende Betrachtungsweise bei der Analyse des Stands der Technik zu vermeiden. R. 27 (1) d) EPÜ 1973 (in der bis 31. Mai 1991 geltenden Fassung (s. z. B. T 2679/19); Vorläufer der geltenden R. 42 (1) c) EPÜ) wurde bereits in T 26/81 (ABl. 1982, 211) als eindeutig verbindlich anerkannt.
Zu beachten ist, dass eine als nicht naheliegend beanspruchte Lösung die Patenterteilung nur dann rechtfertigt, wenn sie auch erzielt wird. Zweifel daran, dass die Erfindung, wie sie in den Patentansprüchen gekennzeichnet ist, die in der Anmeldung definierte Aufgabe tatsächlich lösen kann, können gemäß T 2001/12 folgende Konsequenzen haben: a) Begründen sich die Zweifel darin, dass im Anspruch nicht die Merkmale angegeben sind, die in der Anmeldung als Lösung für die Aufgabe offenbart werden, so ist die Anmeldung möglicherweise nach Art. 84 EPÜ 1973 zu beanstanden, weil der Anspruch nicht alle zur Beschreibung der Erfindung wesentlichen Merkmale enthält; b) Ist dies nicht der Fall, erscheint es aber angesichts des Stands der Technik und unabhängig davon, was möglicherweise in der Beschreibung ausgeführt ist, unglaubwürdig, dass die beanspruchte Erfindung die Aufgabe tatsächlich lösen kann, so ist die Anmeldung möglicherweise nach Art. 56 EPÜ 1973 zu beanstanden, und die Aufgabe muss möglicherweise neu formuliert werden. S. auch T 862/11, die sich ebenfalls mit der Unterscheidung zwischen den Erfordernissen der ausreichenden Offenbarung (Art. 83 EPÜ), der Klarheit der Ansprüche (Art. 84 EPÜ) und der erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) zu befassen hatte.
In T 967/97 führte die Beschwerdekammer aus, dass der Aufgabe-Lösungs-Ansatz im Wesentlichen auf tatsächlichen Feststellungen über technische Aufgaben und Wege zu deren technischer Lösung beruht, die dem Kenntnisstand und Können der Fachperson objektiv, d. h. ohne Kenntnis der Patentanmeldung und der Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, zum Prioritätszeitpunkt zuzurechnen waren (s. auch T 970/00, T 172/03).
Nach Ansicht der Kammer in T 270/11 erfordert der Aufgabe-Lösungs-Ansatz nicht, dass in der Anmeldung beschrieben werden muss, welches Merkmal für genau welchen Vorteil bzw. technischen Effekt verantwortlich ist. Um die Erfordernisse der erfinderischen Tätigkeit zu erfüllen, muss sich einzig der beanspruchte Gegenstand für die Fachperson in nicht naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergeben (Art. 56 EPÜ). Es ist gängige Praxis, Merkmale aus den Unteransprüchen bzw. aus der Beschreibung in einen unabhängigen Anspruch aufzunehmen, um Patentfähigkeit herzustellen und die mit diesen Merkmalen verbundenen Wirkungen und Vorteile als Grundlage für eine (Neu)formulierung der technischen Aufgabe heranzuziehen. Um die objektive technische Aufgabe zu bestimmen, müssen die technischen Ergebnisse bzw. Wirkungen, die mit der beanspruchten Erfindung gegenüber dem ermittelten nächstliegenden Stand der Technik erzielt werden, beurteilt werden.
In T 2517/11 stellte die Kammer – in Bezug auf "verborgene" Merkmale – fest, dass zufolge des von der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelten Aufgabe-Lösungs-Ansatzes alle technischen Merkmale des nächstliegenden Stands der Technik zu berücksichtigen sind, ob sie nun direkt ermittelbar oder verborgen, aber zugänglich sind. Weitere Informationen zu diesem Thema siehe Kapitel I.D.3.6 "Implizite Merkmale".
In T 1761/12 stellte die Kammer Folgendes fest: Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz umfasst die Analyse der Schritte, die eine Fachperson getan hätte, um die vorher definierte objektive technische Aufgabe – und nur diese – zu lösen. Jede darüber hinausgehende Überlegung zu der sich aus dieser Analyse ergebenden Sachdienlichkeit der Änderungen in Anbetracht des nächstliegenden Stands der Technik führte in der Realität dazu, dass in die ursprünglich definierte objektive Aufgabe Elemente aufgenommen würden, die aus anderen zu lösenden Aufgaben stammten.
In T 320/15 befand die Kammer, der Aufgabe-Lösungs-Ansatz verschaffe dem Beschwerdeführer (Einsprechenden) kein Forum, auf dem er nach Belieben auf der Grundlage diverser Dokumente des Stands der Technik verschiedene Angriffe in der Hoffnung entwickeln könne, dass einer davon Erfolg habe.
In einigen Entscheidungen findet sich eine didaktische Zusammenfassung der Rechtsprechung zum Aufgabe-Lösungs-Ansatz; s. z. B. R 9/14, T 519/07, T 698/10.